Da in den USA die Kette von Schülern, die ihre Mitschüler
erschießen, nicht abreißt, haben Miramax ein Problem: Sie wagen es
nicht, ihr Drama "O" in die Kinos zu bringen - in dem Schüler ihre
Mitschüler umbringen
Gute Künstler können mit ihren Werken Probleme und Merkmale der
Gegenwart durch Bearbeitungen klassischer Stücke reflektieren und
den Zuschauer zum Nachdenken anregen. Tim Blake Nelson ("O Brother,
Where Art Thou?") hat in seinem "O" William Shakespeares "Othello"
modernisiert und den Schauplatz in eine US-High School verlegt. Mit
diesem Schritt spiegelt er die Probleme und Merkmale der Gegenwart
allerdings mehr, als es dem Verleiher Miramax lieb ist. Die
Zuschauer bekommen den Film daher vorerst nicht zu sehen. Zum
Nachdenken bringt es einen dennoch.
Bereits seit Sommer 1999 ist das Drama fertig gestellt. In der
"Othello"-Adaption mit Julia Stiles ("Hamlet"), Josh Hartnett ("The
Virgin Suicides") und Martin Sheen ("Code of Conduct") sind am Ende
vier Charaktere tot und einer verwundet. Im Juni 1999 wurde eine
Testvorführung für Dimension Films- und Miramax-Manager arrangiert.
Nachdem zwei Monate zuvor zwei Schüler 15 Mitschüler in Littleton,
Colorado erschossen hatten, hielten es die Produzenten für keine
gute Idee, mit einem Film über ermordete High School-Schüler in die
Kinos zu kommen, und verschoben den für den 17. Oktober 1999
angesetzten Premierentermin.
Im Jahr darauf wagten es die Verantwortlichen wieder nicht, während
der vom demokratischen Vizepräsidentschaftskandidaten Joseph
Lieberman angezettelten Kampagne gegen Gewalt im Kino und dem
allgemeinen politischen Druck auf Hollywood, mit "O" ans Licht der
Leinwand zu gehen und verschoben den zweiten Termin 10. März 2000
ebenfalls. Miramax boten den Film sogar anderen Verleihern an, doch
niemand hatte Interesse. Im November äußerte sich der Dimension
Films-Vorsitzende Bob Weinstein ("Der Zauber von Malena") zu der
Problematik:
"O ist ein Film, der sich mit heiklen Themen, die in unserem Land
wichtig sind, beschäftigt. Deshalb glaubten wir, daß es vernünftig
wäre, die Uraufführung wegen der Ereignisse zu jener Zeit zu
verschieben. Derzeit sitzen wir an einer angemessenen Werbekampagne
für den Film, die sich mit den sozialen Themen befaßt, und schauen
nach einem passenden Veröffentlichungsdatum im Kalenderjahr
2001."
Schließlich wurde der 27. April 2001 als Uraufführungstermin in
allerdings nur zehn Städten festgelegt. Doch nachdem am Montag
erneut zwei Schüler von einem 15 Jahre alten Mitschüler erschossen
worden sind, steht dieser Termin ebenfalls wieder infrage. Julia
Stiles brachte die neue, alte verzwickte Lage auf den Punkt: "Man
hat Angst, daß der Film Anstoß erregen könnte. Für das Publikum ist
es leicht, die Gewalt im Film mit dem in Verbindung zu bringen, was
kürzlich geschehen ist."
Eine Sprecherin der Miramax-Tochter Dimension Films ging am Montag
vor die Presse: "Wir äußern uns nicht zu der Aufführung des Films
nach dem unglücklichen Zwischenfall, der heute in San Diego
passiert ist. Was da geschehen ist, ist schlimm. Verglichen damit
ist die Veröffentlichung unseres Films ein kleines Problem. Wir
bekunden unser Mitgefühl für alle Familien, deren Kinder betroffen
sind."
Eine Quelle aus der Produktionsgesellschaft meint, daß es in einem
solchen Klima fast unmöglich sei, den Film bei seinem Zielpublikum,
Schülern nämlich, zu bewerben, zumal "O" nur mit einem "Restricted"
aus der Zensur kommen werde. Unter 17jährige dürften den Film dann
nur in Begleitung eines Erwachsenen sehen. Aber welcher
amerikanische Erziehungsberechtigte will sich schon mit seinen
Kindern im Kino etwas anschauen, was er gerade in der Wirklichkeit
sehen konnte und dort lieber nicht gesehen hätte?