"Der Wolfsjunge", Arte, 22:00 Uhr
1798 wird ein Zwölfjähriger (Jean-Pierre Cargol) in einem Wald gefunden, der wild aufgewachsen ist und weder sprechen noch schreiben noch lesen kann. Ein Arzt (Francois Truffaut) versucht, das Kind zu zivilisieren.
Regisseur und Drehbuchautor Francois Truffaut ("Sie küssten und sie schlugen ihn") las 1964 in der Zeitschrift "Le Monde" über das Sachbuch "Les enfants sauvages – mythe et réalité" des Sozialpsychologen Lucien Malson, der in seinem Buch 52 Fälle von sogenannten Wolfskindern untersuchte, die in Isolation ohne jegliche menschlichen Kontakte aufgewachsen waren. Ein Fall interessierte Truffaut besonders: Der des Victor von Aveyron, den der Arzt Jean Itard Ende des 18. Jahrhunderts in mehrjährigen Unterrichts- und Erziehungsversuche zu zivilisieren versucht hatte.
Der Filmemacher beschloss, diese wahre Geschichte zu verfilmen und ihr mit einem semi-dokumentarischen Stil gerecht zu werden. Er recherchierte ausgiebig über den Fall und basierte sein Drehbuch auf den Aufzeichnungen des Dr. Itard. Francois drehte in Schwarzweiß und im alten Seitenformat 1:1,33. Teilweise beendeten Irisblenden wie in der Stummfilmzeit die Szenen. Dialoge setzte er nur spartanisch und stattdessen seine Erzählstimme ein. Als Musik kam Antonio Vivaldi zu Gehör.
Für die Rolle der Titelfigur suchten die Besetzer nach geeigneten Jungen in Schulen von Marseille und Nimes und fanden schließlich den zwölf Jahre alten Jean-Pierre Cargol, der über keinerlei Schauspielerfahrung verfügte. Auf die Rolle des Arztes besetzte sich Truffaut selbst. Gedreht wurde in Aubiat im Département Puy-de-Dome im französischen Zentralmassiv.
Das schlichte, faszinierende und anrührende französische Drama ist von Nestor Almendros, der noch achtmal mit Francois zusammen arbeiten sollte, brillant photographiert. Die Handlung wirft viele Fragen in Bezug auf persönliche Freiheit, Persönlichkeitsentwicklung und Bildung auf, die 1970 bei der Premiere auch breit in den Medien diskutiert wurden und Truffaut zu einem gefragten Gesprächspartner werden ließen. Mit 1,5 Millionen Zuschauern wurde "L'enfant sauvage" ein Erfolg beim französischen Publikum.
Ein Zuschauer urteilt: "Ich kann verstehen, dass die Beziehung der Umwelt zu dem wilden Kind als eine Anspielung auf Kolonialismus verstanden werden kann. Die Europäer sahen alle Nichteuropäer als Wilde, die man zivilisieren müsse - genau wie hier den Jungen. Es ist auf jeden Fall ein guter Film. Niemals manipulativ oder rührselig, lässt er die Zuschauer ihre eigene Meinung bilden. Meine ist: Dieser Streifen bestätigt Francois Truffaut's Ruf als einer der großen Meister des Kinos."
Hier geht es zum kompletten TV-Programm