"Das Urteil von Nürnberg", 3sat, 22:25 Uhr
1948 urteilt ein amerikanisches Gericht im besetzten Deutschland über vier Richter wegen Kriegsverbrechen während des Dritten Reichs.
Das Timing hätte nicht besser sein können: Als diese 3 Millionen Dollar teure United Artists-Produktion im Dezember 1961 ihre Weltpremiere in West-Berlin feierte, lief der Prozess gegen Adolf Eichmann, den SS-Obersturmbannführer und Organisator des Massenmordes an den jüdischen Mitbürgern, in Jerusalem seit rund einem halben Jahr. Die Weltöffentlichkeit wurde nicht nur aufs Neue mit den Verbrechen der Deutschen konfrontiert, sondern auch mit den Fragen, die dieses Drama von Regisseur Stanley Kramer und Drehbuchautor Abby Mann verhandelt: Wie viel Schuld kommt dem Einzelnen in einem Staat zu, in welchem Unmenschlichkeit in Gesetzesform gegossen worden ist? Lässt sich das Ausschalten des Gewissens und des gesunden Menschenverstandes mit Befehlsgehorsam erklären? Hat der Einzelne die Möglichkeit, sich dem gesellschaftlichen Unverstand und der Staatsdoktrin der Verfolung, Ermordung, Gefangennahme und Sterilisation bestimmter Bevölkerungsgruppen zu widersetzen, wenn er damit rechnen muss, dass es ihn unter Umständen selbst das Leben kosten kann?
Abby Mann hatte diese Fragen in seinem Fernsehfilm "Judgement at Nuremberg" von 1959 gestellt und nun für die Kinoversion episch - der Film dauert rund drei Stunden - und dialogreich adaptiert. Grundlage der Geschichte sind die Verhandlungen allierter Gerichte gegen 16 NS-Richter und NS-Staatsanwälte 1947 in einem der zwölf Folgetribunale gegen bestimmte Berufsgruppen nach dem ersten Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1946. Im Film ist die Gruppe der Angeklagten auf vier kondensiert. Einer der Anklagepunkte bezieht sich ebenfalls auf eine wahre Begebenheit: 1941 wurde der jüdische Mitbürger Leo Katzenberger wegen "Rassenschande" - er hatte angeblich eine Beziehung zu einem Mädchen gehabt, was seit den Nürnberger Gesetzen von 1935 verboten war - vor Gericht gestellt. Katzenberger, der die Anschuldigungen zurückwies, wurde 1942 hingerichtet.
Das große Verdienst dieses Meisterwerks ist es, dass Kramer und Mann differenziert argumentieren, unterschiedliche Standpunkte zu Wort kommen lassen und keine eindeutige Wertung vornehmen. Sie zeigen auch, dass mit dem einsetzenden Kalten Krieg die Amerikaner näher an die Deutschen als Bündnispartner gegen die Sowjetunion heranrücken und wie US-Politiker daher das Gericht bedrängen, milde Urteile zu fällen, um die neuen Freunde nicht zu verprellen. Auch bemüht sich der Streifen, verständlich zu machen, warum so viele Deutsche willentlich der Politik der Nationalsozialisten folgten; Marlene Dietrich darf sogar die Autobahnen anführen...
Ebenfalls ungewöhnlich für einen Hollywood-Film war die Einbettung von Aufnahmen der Amerikaner aus den Konzentrationslagern nach deren Befreiung; viele US-Zuschauer dürften das erste Mal die Leichenberge und ausgemergelten Häftlinge gesehen haben.
Das mutige und ehrliche Werk war und ist ein anerkennenswerter Beitrag zu Fragen, denen sich die Menschheit wohl immer wieder wird stellen müssen, die aber hier im Bezug auf die unmittelbare Vergangenheit mitten im Herzen der "zivilisierten Welt" besondere Dringlichkeit besaßen. Ein faszinierendes Stück Kino mit einer Besetzung, die ihresgleichen sucht und die großartige Leistungen bringt.
Mit 10 Millionen Dollar Umsatz wurde "Judgement at Nuremberg" in den USA ein großer Publikumserfolg - bemerkenswert für einen Streifen mit einem solch schwierigen Thema. Drehbuchautor Abby Mann und Nebendarsteller Maximilian Schell gewannen den Oscar; nominiert waren daneben der Film, Regisseur Stanley Kramer, Hauptdarsteller Spencer Tracy, Nebendarstellerin Judy Garland, Nebendarsteller Montgomery Clift, Kameramann Ernest Laszlo, Cutter Frederic Knudtson, die Ausstatter und Kostümbildner Jean Louis. Bei den Golden Globes wurden Regisseur Kramer und Nebendarsteller Schell ausgezeichnet; nominiert waren hier der Film, Nebendarstellerin Garland und Nebendarsteller Clift. Bei den Britischen Filmpreisen gingen der Film sowie die Nebendarsteller Schell und Clift ins Rennen. 2013 nahm die Library of Congress den Film als "kulturell, historisch oder ästhetisch bedeutsames" Werk in das National Film Registry auf, um es der Nachwelt zu erhalten.
Eine Zuschauerin urteilt: "Dieser Film mit so vielen Stars in dramatischer Hochform ist mit Vergnügen und gleichzeitig mit Erschrecken zu sehen. Vergnügen, weil Stanley Kramer seine Besetzung mit solcher Finesse und Drama in Szene setzt. Erschrecken, weil der Streifen die Gräueltaten, die während des Zweiten Weltkriegs in Europa begangen wurden, so deutlich macht. All das macht dieses Werk zu einem Muss - historisch kritisch, visuell großartig und mit phantastischen Schauspielern. Drei Stunden mögen lang scheinen, aber dieser Film ist packend von Anfang bis zum Schluss."
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