Ein junger Mann (Karlheinz Böhm) ermordet Frauen, um mit seiner Kamera ihre Angst im Todeskampf festzuhalten.
Das Leben ist nicht fair. "Ich drehe einen Film, den niemand sehen will, und den dann dreißig Jahre später entweder alle gesehen haben oder noch sehen wollen", schrieb Michael Powell in seiner Autobiographie. Vergleicht man die Kritiken des deutschen "Filmdienst" von 1961 und heute, wird schnell klar, was dem englischen Regisseur widerfuhr. Zur Uraufführung urteilte das Kritikorgan der katholischen Kirche: "Krankhaft, abwegig und peinlich geschmacklos." Heute heißt es: "Rückblickend gesehen ein erstaunlich moderner und doppelbödiger Film über den Zusammenhang von Schaulust, Todessehnsucht und sexueller Neurose."
Der damals 55 Jahre alte Filmemacher, in den Vierzigern gefeiert für Werke wie "A Matter of Life and Death" und "The Red Shoes", produzierte und inszenierte "Peeping Tom" (so der Originaltitel) 1959, einen für ihn unüblichen Horrorfilm. Dieser konfrontierte erstmals ein breiteres Kinopublikum mit der erregenden Lust an der Gewalt - und hielt ihnen indirekt den Spiegel vor, denn natürlich erregen sich auch die Zuschauer vor der Leinwand an Gewalt und Erotik. "Peeping Tom" ist der englische Ausdruck für "Spanner".
Martin Scorsese, ein großer Bewunderer von Powell, hat erklärt: "Ich habe immer gefühlt, dass 'Peeping Tom' und '8 1/2" von Federico Fellini alles gesagte haben, was man über das Filmemachen sagen kann, über den Prozess, mit Film umzugehen, die Objektivität und die Subjektivität und die Verschmelzung von beidem. '8 1/2' fängt den Glanz und das Vergnügen des Filmemachens ein, während 'Peeping Tom' die Aggression zeigt; wie die Kamera verletzen kann. Wenn man sich diese beiden Filme ansieht, kann man alles über die Leute lernen, die Filme drehen."
Der Streifen ist ein kalter, systematischer Blick in die abgründige Psychologie eines Mörders; für manche in der Rückschau ein Vorläufer der Slasher-Filme der Achtziger. Doch Anfang der Sechziger schienen Filmwirtschaft und Gesellschaft noch nicht so weit. Das fing damit an, dass Powell keinen britischen Darsteller für die Hauptrolle bekam: Dirk Bogarde kam gar nicht erst, Laurence Harvey sprang wieder ab. So kam der österreichische Mime Karlheinz Böhm zu der Rolle, die aufgrund der Umstände dann zum Gegenteil seiner Eintrittskarte zu einer internationalen Karriere wurde.
Und die Umstände lauteten so: "Man sollte den Film das Klo runterspülen, selbst dann bleibt noch Gestank", urteilte Kritiker Derek Hill im "Tribune", und die Rezensenten wollten sich in ihrer Ablehnung offenbar gegenseitig überbieten. Keiner wollte sich als Fürsprecher dieses "Drecks" erwischen lassen. Dabei sahen Presse und Publikum 1960 schon abgemilderte Fassungen, denn die Zensurbehörden in Großbritannien und den USA, wo "Peeping Tom" es nur auf wenige Leinwände schaffte, hatten zahlreiche Schnitte erwirkt. In Deutschland rang die FSK fast fünf Monate mit dem Werk, bevor es freigegeben wurde - und dann mit einem Schnitt, der die Motivation des Mörders verschleierte und damit den Sinngehalt der ganzen Geschichte verfälschte.
Leider war die Kinoauswertung in den Sechzigern die einzige Möglichkeit, einen Film dem Publikum zu präsentieren. Kam er nicht auf zahlreiche Leinwände oder verschwand schnell wieder von diesen, war er weg. Das Phänomen der Wiederentdeckung von bei ihrer Premiere ignorierten Streifen wie "The Shawshank Redemption" ("Die Verurteilten") als prominentestes Beispiel durch Video- und Disc-Zweitauswertung konnte erst in den Neunzigern entstehen. Bei "Peeping Tom" vollzog sich die Neubewertung in den Siebzigern durch Kinowiederaufführungen und Fürsprecher wie Scorsese, die dafür sorgten, dass die britische Produktion überhaupt erst wieder gesehen werden konnte.
Für Michael Powell kam das zu spät. Seine Karriere in Großbritannien war schlagartig beendet. Niemand wollte mehr seine Filme finanzieren, so dass der Künstler in den Sechzigern in die Bundesrepublik und nach Australien ausweichen musste, um noch einige unbedeutende Streifen zu drehen. Inzwischen taucht "Peeping Tom" auf Listen der "Besten britischen Filme aller Zeiten" auf.
Ein Zuschauer aus dem australischen Canberra schwärmt: "Ich gebe es zu: Fast den gesamten Film über hatte ich keine Idee, in welche Richtung Michael Powell hier unterwegs ist. Um so erfreuter war ich, als sich am Schluss alles zusammen fügt. Wie viel und aus welchen Gründen Kritiker und Publikum diesen Streifen gehasst haben - das hätte nicht passieren dürfen, wenn man sieht, wie hier ein Regisseur auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft inszeniert. Die Kameraführung ist wunderbar souverän, die Farben hell und klar, das Drehbuch clever und unserer Intelligenz vertrauend. Jede Szene ist verunsichernd, die meisten unheimlich."
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