"Freistatt", ARD, 20:15 Uhr
1968 wird der 14 Jahre alte Wolfgang (Louis Hofmann) von seinem Stiefvater (Uwe Bohm) in eine Jugenderziehungsanstalt der Diakonie in Niedersachsen abgeschoben, in der ein brutales Regiment mit Gewalt, Willkür und Zwangsarbeit herrscht.
So kann es gehen: Bei den Deutschen Filmpreisen 2013 wurden Marc Brummund und Nicole Armbruster noch für das "Beste unverfilmte Drehbuch" geehrt, zwei Jahre später setzte die deutsche Filmwirtschaft den inzwischen entstandenen "Freistatt" auf die Liste der acht Streifen, die für eine Oscar-Nominierung in Frage kamen (letztendlich schickte man "Im Labyrinth des Schweigens" nach Hollywood).
Es ist wie so oft in Deutschland: Die Finanzen für einen Spielfilm zusammen zu kratzen, ist mühsamer, als dann das Werk in Szene zu setzen. Mit Hilfe der GEZ-Gebührenzahler und dem Engagement diverser Fernsehsender konnte Brummund sein Kinodebut - bis dahin hatte der damals 43-Jährige nur für das Fernsehen Serienfolgen zum Beispiel für "Der Dicke" geleitet - angehen.
"Freistatt" ist dabei keine Verfilmung des gleichnamigen William Faulkner-Romans von 1931, sondern ein Originaldrehbuch, das Motive aus dem Sachbuch "Schläge im Namen des Herrn" von Peter Wensierski aus dem Jahr 2006 aufgreift. In dem Buch sind die Erinnerungen von Wolfgang Rosenkötter erzählt, der 1961 für 15 Monate im "Moorhort" im niedersächsischen Freistatt eingewiesen war.
Dass Freistatt nahe Diepholz liegt, dem Geburtsort des Regisseurs und Drehbuchautoren, hat Marc das Drama noch reizvoller erscheinen lassen: "Der Film entstand an den Originalschauplätzen unweit meiner Geburtsstadt Diepholz, wo ich wenig später eine sehr viel glücklichere Kindheit erleben durfte. Doch den Geist der 'schwarzen Pädagogik' und die Gottesfurcht spürte ich bis in die Schulbank. Der Kontrast zwischen der sexuellen Revolution und Liberalisierung Ende der sechziger Jahre und der stehen gebliebenen Zeit in einem solch geschlossenen, repressiven System war mein Anreiz, die Härte und Relevanz des Themas mit Genre, Abenteuer und Schauwerten in einem Jugenddrama zu vereinen."
Dass die Produktion sogar vor Ort in der eigentlichen Anstalt drehen konnte, war den Bodelschwinghsen Stiftungen Bethel - dem Träger der Einrichtung - zu verdanken, die sich hier ihre Vergangenheit stellten, aber auch aufgrund des öffentlichen Drucks nach immer zahlreicher bekannt gewordenen Missbrauchsfällen im Umfeld der Kirche stellen mussten.
Man merkt dem bedrückenden und zum Nachdenken anregenden Film an, dass er nicht nur erzählen, sondern auch aufrütteln möchte. Dass kein semi-dokumentarischer Lehrfilm daraus geworden ist, ist vor allem dem phantastischen Hauptdarsteller Louis Hofmann gut zu schreiben, dessen Leistung als "Bester Nachwuchsdarsteller" mit dem Bayerischen Filmpreis geehrt wurde. Leider fand das 2015 in den Kinos angelaufene Werk nur eine Handvoll Zuschauer. Am heutigen Abend wird mit einem Schlag ein Vielfaches dazukommen, und möglicherweise kann die ARD dann Reaktionen von ehemaligen Heimkindern verzeichnen, die bereits nach der Kinoauswertung schrieben, dass "Freistatt" der Wirklichkeit nahe komme, teilweise sogar hinter ihr zurück bleibe.
Kritikerin Julia Dettke schrieb in "Die Zeit": "Die fiktionalen Bilder gewinnen ihren Wert dadurch, dass sie sich im Kopf und im Bauch des Zuschauers festsetzen – tiefer, als es dokumentarischem Faktenwissen gelingen würde. Die Bilder erzählen von inneren und äußeren Widerstandsmöglichkeiten. Sie geben einem das Gefühl, dass man nach außen nur so lange Kraft hat, wie man im Inneren an sie glaubt. Deshalb kann man den Film sehen. Nicht, weil das Thema wichtig ist, sondern weil solche Gefühle wichtig sind."
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