Die 69. Filmfestspiele von Cannes sind erinnerungswürdig zu Ende gegangen. Wohl selten zuvor lagen die Filmkritiker mit ihren Voraussagen der Preiswürdigkeit so daneben wie in diesem Jahr. Es ist gar die Rede von einer "rebellierenden Jury", welche die vermeintlichen Favoriten leer ausgehen ließ und Preise an Werke verlieh, die teilweise sogar von den Journalisten verspottet worden waren.
Der Jury-Vorsitzende George Miller erklärte zu Beginn der Preisverleihungszeremonie am Samstagabend, dass die vorausgegangenen zehn Tage zwar erschöpfend, zugleich aber auch "eine der besten Erfahrungen meines Lebens" gewesen seien. "Wir müssen das Festival loben, uns solch ein Fest des Kinos bereitet zu haben. Wir haben wahrscheinlich länger als die meisten Jurys vor uns diskutiert und die Filme leidenschaftlich und heftig debattiert, wobei nichts ungesagt blieb. Und wir haben vermieden zu schauen, was andere Leute sagten", so der australische Regisseur.
Mit dem Hauptpreis der Goldenen Palme wurde der britische Altmeister Ken Loach für das sozial engagierte Drama "I, Daniel Blake" ausgezeichnet. Es ist seine zweite Palme in Cannes nach "The Wind That Shakes the Barley" von 2006. Der Regisseur erklärte, es sei "sehr seltsam, in einer so glamorösen Umgebung einen Preis zu erhalten, wenn man bedenkt, unter welchem Umständen die Menschen leben müssen, deren Erfahrungen meinen Film inspiriert haben". Filmemacher müssten ausdrücken, dass eine andere Welt "möglich und notwendig" sei, ansonsten würden "Leute der extremen Rechten aus der Verzweiflung der Menschen Vorteile ziehen". Jury-Mitglied Donald Sutherland pries auf der Jury-Pressekonferenz "I, Daniel Blake" als einen "absolut großartigen Film, der in deinem Herzen und deiner Seele nachhallt".
Beim Preis für die "Beste Regie" gab es eine Doppelvergabe an Cristian Mungiu für das rumänische Drama "Graduation" und für Olivier Assayas und dessen französischen Horrorfilm "Personal Shopper". Letzterer Film hatte bei der Pressevorführung eher Buh-Rufe denn Applaus hervorgerufen - ebenso wie "It's Only the End of the World" von Xavier Dolan, der nun sogar mit dem Großen Preis der Jury, quasi der Silbermedaillie prämiert wurde. Der ungarische Regisseur Lásló Nemes, der im vergangenen Jahr die Goldene Palme für "Son of Saul" erhalten hatte, lobte "It's Only the End of the World" als "sehr bewegende Reise", die ehrgeizig gewesen sei und bei der einige Riskien eingangenen worden seien. "Als der Film begann, konnte man die sehr spezifische Stimme des Regisseurs vernehmen. Ich bin immer sehr glücklich, wenn ich sehe, dass die Filmemacher in äußerst unterschiedliche und persönliche Richtungen gehen. Ich denke, dass dies das Kino ausmacht."
Der Jury-Preis, sozusagen der dritte Platz, ging an das Drama "American Honey" der Britin Andrea Arnold, die damit nach "Red Road" und "Fish Tank" sogar schon zum dritten Mal in Cannes gewann. Auch dies eine Überraschung, denn viele Beobachter hatten den deutschen Vertreter "Toni Erdmann" von Maren Ade als preiswürdig erachtet, gar als Favorit auf die Goldene Palme gehandelt. Der britische Kritiker Peter Bradshaw findet es gar "skandalös", dass Ade's Komödie überhaupt keinen Preis entgegen nehmen durfte.
Einen Doppelerfolg gab es für das iranische Drama "The Salesman", bei dem sich Regisseur Asghar Farhadi für sein Drehbuch und Hauptdarsteller Shahab Hosseini über Preise freuen konnten. "Beste Darstellerin" wurde Jacyln Jose für den philippinischen Thriller "Ma Rosa".
Der allgemeine Konsens ist, dass dies ein recht guter Cannes-Jahrgang mit nur wenigen Enttäuschungen gewesen ist. Allseits gelobt wird die Organisation, die trotz der wegen Terrorangst erhöhten Sicherheitsvorkehrungen einen reibungslosen Ablauf ermöglichte.
Hier die Liste der Auszeichnungen:
Goldene Palme: "I, Daniel Blake" von Ken Loach (Großbritannien)
Großer Preis der Jury: "It's Only the End of the World" von Xavier Dolan (Kanada)
Jury-Preis: "American Honey" von Andrea Arnold (Großbritannien)
Goldene Kamera (für bestes Debut): "Divines" von Houda Benyamina (Frankreich)
Bester Kurzfilm: "Timecode" von Juanjo Giménez Peña (Spanien)
Bester Regisseur: Cristian Mungiu für "Graduation" (Rumänien) und Olivier Assayas für "Personal Shopper" (Frankreich)
Bestes Drehbuch: Asghar Farhadi für "The Salesman" (Iran)
Beste Hauptdarstellerin: Jaclyn Jose für "Ma Rosa" (Philippinen)
Bester Hauptdarsteller: Shahab Hosseini für "The Salesman" (Iran)
Ehren-Goldene Palme für das Lebenswerk: Jean-Pierre Léaud