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A Lullaby to the Sorrowful Mystery
A Lullaby to the Sorrowful Mystery
© Bradley Liew

Berlinale Tagebuch 2016: Der längste Wettbewerbsfilm aller Zeiten

8. Tag: Last Man Sitting - Unser Kritiker hielt bis zum Ende aus

Mit einer Laufzeit von 485 Minuten (plus 60 Minuten Pause) war der gestrige philippinische Wettbewerbsbeitrag "Hele Sa Hiwagang Hapis" ("Wiegenlied für ein sorgenvolles Geheimnis") - der längste aller Zeiten im Wettbewerb. Trotzdem dürften Kenner dieses Filmemachers erleichtert gewesen sein, dass Lav Diaz sich diesmal mit acht Stunden Dauer geradezu beschränkt hatte, denn viele seiner Streifen dauern neun Stunden, einer soll es sogar auf elf bringen. Dies ruft einem Alfred Hitchcock's Ausspruch in Erinnerung: "Die Länge eines Films sollte sich am Durchhaltevermögen der Blase bemessen."

Los geht es um 10 Uhr. Eine Journalistin macht Dehnübungen. Sie hätte sich nicht bemühen müssen, ebenso wenig wie der Kollege, der in der hinteren Reihe seine Füße in Überzieher verpackt, um sie auf die Sesselreihe vor sich zu legen - sie werden schon wenig später zu dem nach 15 Minuten einsetzenden, nicht enden wollenden Strom von Pressevertretern und Zuschauern gehören, welche den Berlinale-Palast bereits in der ersten Vorführungshälfte verlassen. Unser Kritiker Ralf Augsburg hat den Mammutfilm tapfer bis Abspann verfolgt, um für unseren Lesern über seine Erfahrung berichten zu können:

Ihm zufolge wurde bereits nach wenigen Minuten deutlich, dass "Hele Sa Hiwagang Hapis" die Art von Programmkinofilm ist, über welche sich Hollywood mit Leichtigkeit amüsiert: Schwarzweiß, im alten Bildformat 1:1,33 gedreht, mit endlosen Einstellungen wahlweise auf Menschen, die nichts tun, oder mit metaphysischem Geschwafel. Das Ergebnis ist ein bizarres Kinostück, bei dem man minutenlang jemanden beim Lochbuddeln zusehen kann und in das an anderer Stelle völlig zusammenhanglos eine Hommage an die Brüder Lumiere - die Miterfinder des Kinos - eingebaut ist. Ein Film, der sich im Kreis dreht, dabei endlos wiederholt und am Ende mit dem lahmsten aller lahmen Kniffe - einem zusammenfassenden Voice-Over, der einem erklärt, was man gerade acht Stunden lang gesehen hat - endet.

Immerhin sorgte dieser Sichtungs-Stunt der Berlinale für viel Berichterstattung. So wurde bereits im Vorfeld von dem "Berlinale-Gipfel" berichtet ("Halten die Zuschauer durch?"), und in der Pause und am Ende standen Kamerateams am Ausgang, um die Besucher zu ihren Erfahrungen zu interviewen. Besser als den Pressevertretern ging es dahingegen der Jury, welche den Film nicht mit allen anderen zusammen zu sehen brauchte. Von DVDs auf den Hotelzimmern war hier die Rede...

Letzteres ist immerhin konsequent, da ein acht Stunden langer Film sowieso keine Chancen auf den Goldenen Bären hat. Denn am Samstagabend kann man den geladenen Gästen schwerlich im Anschluss an die Verleihung diese Monstrosität als Gewinner des Goldenen Bären zumuten. Die Vorstellung würde wohl bis vier Uhr morgens dauern. Aber es lässt auch ein seltsames Verständnis von Wettbewerbsgleichheit durchblicken...

Ralf Augsburg fasst die Seherfahrung mit den Worten zusammen: "Man kann nur hoffen, dass die Berlinale-Verantwortlichen nun ihre erhöhte Dosis Aufmerksamkeit genossen haben und solch einen Mumpitz in Zukunft lassen. Die acht Stunden ihres Lebens bekommen viele der frustrierten Zuschauer jedenfalls nicht zurück. Am Ende gab es lang anhaltenden Applaus, weil wir gute Gastgeber sind und den anwesenden Filmemachern und Schauspielern für ihre Arbeit Respekt zollen."

Mit endlosen Zeiten wurde an diesem Tag auch Kollege Gregor Torinus konfrontiert, jedoch dankenswerter Weise nur in Form eines Filmtitels: Im Panorama lief das brasilianische Drama mit dem internationalen Titel "Time Was Endless" und einer knackigen Kürze von 85 Minuten zu sehen. In dem Film erzählen die beiden Regisseure Sérgio Andrade und Fábio Baldo von einem jungen Indio im Amazonasgebiet, der nach Manaus zieht. Dort steht er täglich zwischen diesem für ihn neuen modernem Leben und der Welt seines Stammes mit ihren alten schamanischen Riten. Doch der aufgeweckte junge Mann sieht in der Großstadt bessere Möglichkeiten für die Entwicklung seiner Persönlichkeit und für das Finden seiner sexuellen Identität als in der Enge des Stamms. Die Regisseure finden für diese Geschichte eines Wanderers zwischen zwei Kulturen starke Bilder und starke Töne.

Das Ergebnis ist ein schöner kleiner Film, welche die alte Weisheit bestätigt, dass es nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität ankommt. Zudem zeigt sich erneut, dass die interessantesten Filme auf der Berlinale oft in den Nebensektionen versteckt sind, während der Wettbewerb mit drögem Kunstquark und Problem-Dramen zugestopft ist.

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