Gestern Abend reden sich im Berlinale-Radio rbb ein Moderator und Schauspielerin Maren Kroymann den französischen Wettbewerbsbeitrag "L'avenir" schön und nutzen dabei die nette Redewendung vom "Gähnen wider besseren Wissens". So kann man einen Film natürlich auch sehen: Ich langweile mich, finde aber nachher die Gründe, warum ich mir das eigentlich gar nicht erklären kann.
Der vierte Wettbewerbstag brachte dann heute glücklicherweise wenig Anlass zum Gähnen. Am Sonntagmorgen war der Berlinale-Palast noch recht spärlich gefüllt, doch das Kommen brauchten diejenigen Journalisten, bei denen auch die Morgenstund am Sonntag Gold im Mund führt, nicht zu bereuen: Der portugiesische Beitrag "Cartas da Guerra" von Ivo Ferreira überzeugte als Meditation über die Verwüstungen, die der Krieg in der Seele anrichten kann; insbesondere die gestochen scharfen Schwarzweiß-Bilder heben das Drama ab, das wie eine europäische Version von Terrence Malick's "The Thin Red Line" ("Der schmale Grat") wirkt. Nicht so grandios wie jener, vielleicht mit dessen Längen, aber teilweise auch ebenso hypnotisch in seiner Verschlingung von Worten und Bildern. Am Ende gibt es höflichen Applaus. Kameramann João Ribeiro's Name wird sicherlich fallen, wenn die Jury über die Silbernen Bären diskutiert.
Zwischen den Filmen kann man den armen Tropf beobachten, der am Seiteneingang des Berlinale-Palastes sicherlich mehrere Dutzend Mal am Tag erklären muss, warum er als Berlinale-Mitarbeiter Leute herauslässt, sie aber nicht dort hineindürfen, sondern einmal um das halbe Gebäude laufen müssen, um am Haupteingang wieder Einlass zu finden. Besonders diejenigen, die gerade eben durch die Seitentür rausgegangen sind, "um mal eine zu rauchen", verstehen dieses Prozedere nicht so ganz.
Zur Mittagszeit sind die Schlangen der Nicht-Wettbewerbspresse schon deutlich länger als am Morgen: Der einzige deutsche Wettbewerbsbeitrag "24 Wochen" füllt den Palast zwar nicht ganz, lockt aber sicherlich bisher mit die meisten Zuschauer. Sie werden Zeuge eines Höhepunkts der bisherigen 66. Filmfestspiele. Regisseurin und Drehbuchautorin Anne Zohra Berrached hat es geschafft, das sensible Thema einer (sehr späten) Spätabtreibung so sensibel wie möglich und so drastisch wie nötig auf die Leinwand zu bringen.
Die tollen Schauspieler Julia Jentsch und Bjarne Mädel verkörpern glaubwürdig ein Paar, das eine Entscheidung zu treffen hat, bei der es kein richtig und kein falsch gibt. Schon lange vor Ende des einnehmenden Dramas schneuzt es von allen Seiten, aus Parkett und Loge. Taschentuchalarm im Berlinale-Palast! Der akustische Beweis, dass "24 Wochen" die Kritikerherzen angerührt hat. Der Applaus am Ende fällt vergleichsweise mager, aber immer noch freundlich aus. Eigentlich sollte dies ein Anwärter auf den Goldenen Bären sein - möglicherweise ist er der Jury dann aber nicht politisch-gesellschaftlich genug.
Den dritten Film am Nachmittag im Cinemaxx sah unsere Redakteurin Julia Nieder. In "Quand on a 17 ans" ("17 Jahre sein") behandelt Regisseur und Drehbuchautor André Téchiné das Aufwachsen in verschiedenen sozialen Milieus, die Verwirrungen der Jugend und die Erziehung der Gefühle in einem rauen Bergdorf im Südwesten Frankreichs. Julia gefiel das Drama, insbesondere die Kameraführung, nur die Motivationen mancher Figuren ließen sie perplex zurück. Und nicht nur sie, wie man nach Ende der Vorstellung beim Verlassen des Kinosaals den Gesprächsfetzen anderer Journalisten entnehmen konnte. Auch hier gab es ordentlichen Applaus.
Derweil war unser Kritiker Gregor Torinus in der Reihe Panorama Dokumente unterwegs, wo heute gleich zwei Dokumentarfilme zu zwei amerikanischen Photographen zu sehen waren, die abgesehen von ihrem gleichen Vornamen unterschiedlicher kaum sein könnten: "Mapplethorpe: Look at the Pictures" widmet sich dem Fotokünstler Robert Mapplethorpe der 1987 im Alter von 42 Jahren an AIDS starb und der mit fetischistischen homosexuellen SM-Bildern berühmt-berüchtigt wurde. Das Portrait von dem Regieduo Randy Barbato und Fenton Bailey ("Inside Deep Throat") ist Gregor zufolge von großer suggestiver Kraft und entwirft zugleich ein differenziertes und wirklich in die Tiefe gehendes Portrait dieser komplexen Künstlerpersönlichkeit. Das meisterliche Ergebnis erntete vedientermaßen großen Applaus.
Ganz anders dahingegen "Don’t Blink - Robert Frank" von Laura Israel, einer langjährigen Mitarbeiterin des porträtierten Fotografen und Experimentalfilmers. Der in Zürich aufgewachsene New Yorker Robert Frank ist eine komplett andere Persönlichkeit als Robert Mapplethorpe. Frank arbeitet extrem spontan. Seine Fotos sind zumeist echte Schnappschüsse und wirken deshalb wie direkt aus dem Leben gegriffen. Frank interessieren am meisten gewöhnliche Menschen und Existenzen am Rande der Gesellschaft. Früher arbeitete er zudem mit den Beatpoeten Jack Kerouack und Allen Ginsberg zusammen. Gregor Torinus kommt zu einem gemischten Urteil: "Laura Israel gelingt es hervorragend, die Quirligkeit, Spontanität und das Unprätentiöse von Frank in ihrem Film festzuhalten. Allerdings lässt der Film die Genauigkeit und die Tiefe des zuvor gezeigten Mapplethorpe-Films vermissen."
Am späten Abend gab es zum Schluss des vierten Festivaltages mit dem Hongkong-Thriller "Trivisa" noch einen interessanten Film im Forum zu sehen. Das von Johnnie To produzierte Thrillerdrama spielt im Jahre 1997 kurz vor der Rückgabe der britischen Kronkolonie Hongkong an China. Erzählt wird die Geschichte dreier realer Gangsterbosse, die versuchen sich an die sich rasant ändernden Umstände anzupassen. Hierbei werden die drei unterschiedlichen Erzählstränge jeweils von einem der drei Nachwuchsregisseure Vicky Wong, Jevons Au und Frank Hui inszeniert. Diese reizvolle Idee wird mit viel Gespür für verschiedene Milieus, interessanten Charakteren und guten Darstellern umgesetzt. Was den guten Gesamteindruck jedoch deutlich schmälert, ist die sehr eigenwillige und letztendlich wenig überzeugende Dramaturgie: Erst baut sich die Geschichte ganz langsam auf, und als es endlich loszugehen scheint, endet der Film in einer einzigen großen Antiklimax.
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