Die Sonne lacht über Berlin - und da ist es immer noch ein wenig skurriler, sich um neun Uhr morgens bereits in einem abgedunkelten Saal Filme anzuschauen. Zumal der heutige Tag mit keiner leichten Kost begann: Der italienische Dokumentarfilm "Seefeuer" ("Feuer auf dem Meer") zeigt in teilweise schonungslosen Bildern, wie die italienische Küstenwache und die italienischen Ärzte vor Lampedusa die im Meer treibenden Flüchtlingsboote aufbringen - traumatisierte Menschen, Leichenberge. Die Einwohner von Lampedusa werden tagtäglich Zeugen der größten humanitären Katastrophe unserer Zeit.
Regisseur Gianfranco Rosi zeigt in seinem Film, der vollkommen ohne Kommentar auskommt, zwei Welten auf Lampedusa: Das ursprüngliche italienische Leben, das mit dem Mittelmeer als Broterwerb andere Assoziationen verbindet als die Flüchtlinge, für die es die große und buchstäblich oft letzte Prüfung auf ihrer langen Reise ist. Der Film wurde mit lang anhaltendem Applaus bedacht. Es ist nicht auszuschließen, dass "Fuocoammare" auf der sich als politisches Festival verstehenden Berlinale wegen seiner tagespolitischen Relevanz und der Massivität der menschlichen Tragödie, die es zeigt, ohne sich diese ausdenken zu müssen, am Ende mit einem Bären geehrt wird.
Regisseur Rosi erzählte auf der anschließenden Pressekonferenz, dass seine Dokumentation zunächst als Kurzfilm über Lampedusa geplant war. "Aber es war unmöglich, eine so komplexe Wirklichkeit in einem Kurzfilm zu erzählen", so der Filmemacher. Es sei nicht seine Absicht gewesen, einen politischen Film zu drehen; er glaube aber, "dass wir alle Verantwortung tragen in dieser Tragödie, der größten seit dem Holocaust".
Pickepackevoll der Saal im Berlinale-Palast dann zum zweiten Wettbewerbsfilm, was wahrscheinlich am Namen der Hauptdarstellerin lag: Isabelle Huppert. Und wo Isabelle Hupert drauf stand, war auch Isabelle Huppert drin. Fans der Schauspielerin kamen hier auf ihre Kosten, denn die Mimin ist in fast jeder Szene zu sehen. "L'avenir" ("Was kommen wird") ist ihr Film. Die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Mia Hansen-Love ("Eden") hat einen Magister in deutscher Philosophie, ihre beiden Eltern sind Philosophielehrer, und wer böse ist, könnte meinen, dass sie das in ihrem fünften Spielfilm arg raushängen lässt. Wohlwollender lässt sich sagen: Die 35-Jährige filmt etwas, wovon sie was versteht.
Auf jeden Fall ein ziemlicher Kontrast zum Tagesauftakt: Eben ging es noch um Leben und Tod, nun um die Befindlichkeiten einer Pariser Philosophie-Professorin. Auch hier am Ende Applaus, aber weniger donnernd als bei "Fuocoammare". Ein klassischer Kandidat für einen Silbernen Bären für die "Beste Darstellerin". Regisseurin Hansen-Love beschreibt das Thema des Films: "Die Zeit läuft uns davon, und wir alle suchen nach einem Sinn im Leben."
Den besten Stich machte heute Kollege Gregor Torinus mit dem dritten Wettbewerbsbeitrag "Mahana - Eine Maori-Saga" ("Der Patriarch"), der allerdings außer Konkurrenz gezeigt wurde. Schade, denn der laut Gregor "sehr schöne Film" hätte womöglich das Zeug zu einem Bären-Kandidaten. Die äußerste bewegende Familiengeschichte basiert auf einem Roman des "Whale Rider"-Autors Witi Ihimaera. Der von Lee Tamahori ("The Devil's Double") inszenierte Film ist ein klassisches Familiendrama in einer für uns exotischen Welt.
Die Handlung spielt in den sechziger Jahren an der Ostküste Neuseelands und handelt von der Familiengeschichte der Maori-Familien der Mahanas und Poatas. Diese sind miteinander verfeindet, obwohl niemand mehr zu wissen scheint, wie es überhaupt dazu kam. Die Geschichte wird aus der Perspektive der Mahana-Sippe erzählt, die unter dem harten Regime des konservativen Patriarchen Tamihana leidet. Nur der sehr intelligente 14-jährige Simeon wagt es, sich der Autorität seines herrschsüchtigen Großvaters entgegen zu stellen. Dabei behandelt "Mahana" universelle Themen, wie den ewigen Konflikt zwischen Tradition und Moderne, sowie eines latenten gesellschaftlichen Rassismus versus dem Schutz von Minderheiten. Das alles ist in ein aufwühlendes Drama mit tollen Darstellern verpackt, für das es berechtigter Weise starken Applaus gab.
In der Sektion Berlinale Special war heute der US-amerikanische Dokumentarfilm "National Bird" zu sehen. Der Film zeigt drei ehemalige Analysten der Air Force, die im Drohnenprogramm tätig waren und die heute bekennende Gegner des Einsatzes vom Kampfdrohnen sind. Leider bleibt laut Kollegen Torinus der Erkenntnisgewinn beschränkt, da es mehr um die jetzige Befindlichkeit der Interviewten als um konkrete Fakten zu ihrer einstigen Arbeit geht. Sehr eindringlich und beklemmend ist dahingegen ein Interview mit den überlebenden Familienmitglieder von Zivilisten, die bei einem auf Fehlinformationen beruhenden Drohneneinsatz bombardiert wurden. Der damalige Einsatz wird aus Sicht der beteiligten Militärs nachgestellt, wobei ein Originalband mit dem damaligen Funkwechsel läuft. Jenes legt auf bestürzende Weise offen, wie menschenverachtend und zynisch die Menschen seien können, welche diese angeblich so saubere Waffen einsetzen.
Ebenfalls äußere schwere Kost war im Panorama zu sehen. Dort wurde der auf wahren Begebenheiten basierende "Shepherds and Butchers" des südafrikanischen Regisseurs Oliver Schmitz gezeigt. Das äußerst eindringliche Gerichtsdrama behandelt auf dem Fall eines jungen Weißen, der 1987 ohne sichtliches Motiv sieben Schwarze erschossen hatte. Als sein Strafverteidiger (brillant: Steve Coogan) herausfindet, dass sein Mandant als Wärter im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses in einem Jahr über 160 Todesurteile mit vollstrecken musste, versucht er zu ergründen, ob dies ursächlich mit dem Verbrechen im Zusammenhang steht.
Der Film ist Gregor Torinus zufolge eine beklemmende Kritik der damals in Südafrika noch gängigen Todesstrafe, die erst im folgenden Jahrzehnt unter Mandela abgeschafft wurde. Um zu zeigen, was dies sogar mit den beteiligten Wärtern machte, wird dem Zuschauer hierbei wirklich nichts erspart. Zahlreiche extrem hässliche Einzelheiten führten während der Vorstellung zu zahlreichen Walk-Outs. Dass es sich trotzdem unbedingt lohnt, diesen Film (bis zum Ende) zu sehen, zeigte der kräftige krönende Applaus.
Alle Artikel zur Berlinale 2016