Ende der Fünfziger machten sich einige französische Filmkritiker des Magazins "Cahiers du Cinema" auf, um nicht mehr nur länger das von ihnen so etikettierte "Cinéma du Papa" zu kritisieren, sondern es selbst besser zu machen. Sie tauschten die Schreibmaschine gegen das Megaphon und begründeten mit ihren Filmen die so genannte Nouvelle Vague, die Neue Welle im Französischen Kino. Die bekanntesten Namen sind Francois Truffaut, Jean-Luc Godard, Alain Resnais, Claude Chabrol, Eric Rohmer und Jacques Rivette. Letzterer ist am 29. Januar in Paris im Alter von 87 Jahren gestorben.
Rivette wurde am 1. März 1928 in Rouen als Sohn eines Apothekers geboren. Bereits als Teenager interessierte er sich für das Filmen und drehte einen 20 Minuten langen Stummfilm auf 16mm. Sein Wunsch, am Institut des Hautes Études Cinématograhiques in Paris zu studieren, erfüllte sich nicht - er wurde nicht aufgenommen. Bei Filmvorführungen in der Cinémathèque Francaise, wo er seine Filmbildung in Eigeninitiative vorantrieb, traf er Chabrol, Godard und Rohmer und wurde 1950 Mitglied eines Kinoclubs, für dessen Magazin, das Rohmer verantwortete, er schrieb. Er folgte seinem Freund zu "Cahiers du Cinema", wo Jacques dann hauptsächlich Artikel über das amerikanische Kino verfasste.
Nach mehreren Kurzfilmen inszenierte er 1961 seinen ersten Spielfilm "Paris nous appartient" ("Paris gehört uns"), der sich bereits wie so viele seiner Werke mit dem künstlerischen Schöpfungsprozess auseinander setzt. Hier kommt eine Gruppe von Amateurschauspielern zusammen, um eine Shakespeare-Aufführung auf die Beine zu stellen. In "L'Amour Fou" von 1969 probt eine Theatergruppe ein Stück, während sie von einer Fernseh-Crew gefilmt werden. In "Out 1" werden zwei Stücke von Aischylos jeweils von einem Mann und einer Frau eingeübt - den Hintergrund bilden die zerstörten Hoffnungen des gesellschaftlichen Aufbruchs vom Mai 1968. "Oui 1" dauert zwölf Stunden - eine "Kurzfassung" ist immer noch vier Stunden lang.
Rivette's Filme, oft improvisiert, ohne Drehbuch, sind meistens mindestens über zwei Stunden lang. Von allen Nouvelle Vague-Künstlern drehte Rivette wohl die auspruchsvollsten und kompromisslosesten Werke, die daher einem Massenpublikum weniger zugänglich und bekannt sind als die seiner Nouvelle Vague-Kollegen. Außerdem ist die große Anzahl von starken Frauenfiguren und weiblichen Ensembles in seinen Filmen auffällig.
Sein am leichtesten zugänglicher Streifen ist womöglich die phantasievolle Komödie "Céline et Julie vont en bateau" ("Céline und Julie fahren Boot"). Filme wie "L'Amour par Terre" ("Theater der Liebe") mit Jane Birkin und Geraldine Chaplin von 1984 und "La bande des quatre" ("Die Viererbande") von 1988 beschäftigen sich erneut mit den Wechselwirkungen von Film und Theater.
1975 erlitt Jacques nach drei Drehtagen bei den Dreharbeiten zu "Marie et Julien", einer Liebesgeschichte mit Leslie Caron und Albert Finney, einen Nervenzusammenbruch . Der Film wurde nie beendet, und Rivette brauchte gut ein Jahr, um wieder gesund zu werden. "Ich hatte meine Kräfte überschätzt", erklärte der Regisseur später. 2003 sollte er die Geschichte erneut in Angriff nehmen und als "Histoire de Marie et Julien" ("Die Geschichte von Marie und Julien") mit Emmanuelle Béart und Jerzy Radziwilowicz auf die Leinwand bringen.
Seinen bekanntesten und einen seiner besten Filme veröffentlichte der Filmemacher 1991 mit "La Belle Noiseuse" ("Die schöne Querulantin") mit Michel Piccoli und Emmanuelle Béart - auch diesen Film gibt es in einer Langfassung von rund vier Stunden und einer kürzeren von zwei Stunden. Diese Meditation über die Schwierigkeit, sich künstlerisch auszudrücken, gewann den Großen Preis der Jury des Cannes Filmfestivals, war für den Französischen Filmpreis nominiert und machte Rivette's Namen einem breiteren Publikum bekannt.
1994 brachte er seine Version der Johanna von Orleans-Geschichte mit zwei jeweils knapp dreistündigen Filmen "Jeanne la Pucelle" ("Johanna, die Jungfrau") ins Kino. Der kostspielige Streifen wurde kein Erfolg, so dass sich Rivette mit dem Musical "Haut bas fragile" ("Vorsicht - Zerbrechlich") ein Jahr später kleiner setzte. 1998 folgte der Kriminalfilm "Secret défense" ("Geheimsache") und 2001 die Komödie "Va savoir" ("Keiner weiß mehr"). Seine beiden letzten Werke wurden 2007 das Drama "Ne touchez pas la hache" ("Die Herzogin von Langeais") und 2009 das Drama "36 vues du pic Saint-Loup" mit Jane Birkin, der in Deutschland nicht mehr in die Kinos kam.
Dass seine Anzahl an Spielfilmen mit 20 Werken überschaubar blieb, liegt sicherlich an der bedächtigen Arbeitsweise, aber auch an den oft erheblichen Finanzierungsproblemen, denen sich der Filmemacher oft gegenüber sah.
Jacques Rivette's rund 50 Jahre währende Karriere wurde auch durch seine Alzheimer-Erkrankung beendet, an deren Folgen er nun gestorben ist. Er hinterlässt seine zweite Frau Véronique.