Mit dem ersten Viertel des Panorama-Programms auf der Berlinale 2016 zeichnet sich bereits ein zeitgeistiges Bild ab, mit allen Elementen, die ein Programm braucht: Star-Entertainment mit Aufgreifen relevanter Themen, Aufklärung und ethisch-moralische Erwägungen zu Diskursen der Zeit. Geschichtsblicke in den Nahen Osten, nach Afrika, Europa und in die USA sind bereits vertreten. In den noch andauernden Sichtungen spiegeln sich weitere Themen wider, die den bereits vorliegenden Nukleus bestätigen. Mitte Januar werden die etwa 32 Spielfilme und 18 Dokumentarfilme feststehen, die das Panorama 2016 zeigen wird.
Bereits drei Filme aus Großbritannien zeigen gut entwickelte Genre-Lust: John Michael McDonagh kommt nach Berlin zurück mit einer bitterbösen Cops-on-the-loose-Geschichte aus New Mexico: In "War on Everyone" spielen Alexander Skarsgård, Michael Peña, Theo James und Tessa Thompson. McDonagh erlebte bereits 2011 und 2013 mit seinen irisch-britischen Co-Produktionen "The Guard" und "Calvary" im Panorama große Erfolge. "Remainder", das talentierte Debüt von Omer Fast, erforscht Genre mit Thrill und Fantasy: Der Protagonist setzt eine beeindruckende Schmerzensgeldsumme ein und erschafft ein urbanes Paralleluniversum, um seinen Gedächtnislücken auf die Spur zu kommen. Thrill und Fantasy auch in "The Ones Below" von David Farr: Ein böse gesponnenes Narrativ über Kinderwunsch, Nestbau, Kleinfamilie, all die freundliche Normalität, die so vielen erstrebenswert erscheint - doch das Erstreben selbst kann blutgefrierende Züge annehmen.
Seit Rebecca Miller's "Ballad of Jack and Rose" im Panorama 2005 und "The Private Lives Of Pippa Lee" im Wettbewerb 2009 durfte man auf ihre nächste Arbeit gespannt sein - hier ist sie: "Maggie's Plan", mit Greta Gerwig, Julianne Moore und Ethan Hawke. Um Beziehungsmöglichkeiten geht es und Schwangerschaftszwänge, um eine Beziehung zu dritt oder doch nicht - die unzähligen Ideen, mit denen die Schauspieler ihre Figuren bereichern, machen großen Spaß.
Olivier Ducastel und Jacques Martineau sind Meister der Inszenierung männlicher Charaktere jenseits des Klischeestreams: Seit sie 1998 ihren Erstling "Jeanne et le garçon formidable" im Wettbewerb zeigten, waren sie mehrfach zu Gast. In "Théo et Hugo dans le même bateau" entwickelt sich im Laufe einer Pariser Nacht eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Bouli Lanners erzählt in seiner französisch-belgischen Co-Produktion "Les Premiers, les Derniers" eine finstere Saga mit Lichtgestalten. In diesem Weltuntergangs-Western kann selbst die raueste Schale nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier darunter Feingefühl schlummert. Lanners zeigte 2005 "Ultranova" im Panorama.
"S one strane" des Kroaten Zrinko Ogresta nimmt einen roten Faden der letzten Panorama-Programme auf: die Auseinandersetzung mit politischen Vergangenheiten. Dies ist nicht immer so spektakulär wie in "The Act of Killing" (Panorama Publikums-Preis 2014), aber wenn sich auf dem Balkan die jüngere Vergangenheit zurück in die noch frische Normalität schleicht, wird einem bewusst, wie unvermeidlich ihre Bewusstmachung für die Zukunft ist. Eine faszinierende Hauptdarstellerin und die subtil-intelligente, rundum herausragende Kameraleistung machen diesen Film zu einem Juwel. Im tschechischen Debut "I, Olga Hepnarová" von Tomáš Weinreb und Petr Kazda befreit sich eine junge Frau aus den Zwängen ihrer feindlichen Welt, nur um sich der Herausforderung gegenüber zu sehen, allein zurecht zu kommen - und mit all den fatalen Prägungen, die sie von ihrer Familie und der Gesellschaft im Umbruch mit auf den Weg bekam.
Zwei Filme aus Israel Udi Aloni, enfant terrible des israelischen Kinos, zeigte bislang alle seine Werke in Berlin - und auch diesmal ist es sein besonderes Interesse, die Rolle Israels im Zusammenleben mit den Palästinensern im Licht immer noch möglicher Gerechtigkeit zu sehen. In "Junction 48" bleibt die Jugend die Hoffnung, und der Rap ihre Stimme! Und junge Israelis, ob jüdischer oder arabischer Herkunft, könnten sie nutzen… Und noch einmal stehen israelische Bürger arabischer Herkunft im Mittelpunkt: Elite Zexer erzählt in "Sufat Chol" von einer Beduinenfamilie in der israelischen Wüste Negev. Der Ehemann und Vater dreier Töchter heiratet eine Zweitfrau. Die erste Frau nimmt dies schwer, und bald sieht sich das Patriarchat in die Enge getrieben. Der Marokkaner Hicham Lasri sorgte im letzten Panorama für Aufsehen mit seinem "The Sea Is Behind", und man war sich einig: Ein außergewöhnliches Talent. Der neue Film "Starve Your Dog" steht dem in nichts nach. Mit größtem Assoziationsreichtum und in einer energetisch aufgeladenen Bildgestaltung werden die Absurditäten, Anomalitäten, die missliche Verfassung einer zutiefst missbildeten Gesellschaft spürbar.
In "Nakom" von Kelly Daniela Norris und TW Pittman beginnt für einen jungen Medizinstudenten in Ghana's Hauptstadt Accra gerade das Leben fernab vom Dorf. Doch schon kommt sein Vater ums Leben, er wird als ältester Sohn nach Hause beordert. Dort hat er alle Hände voll zu tun, die vielen Begehrlichkeiten der Verwandten zu arrangieren und den Hof wieder in Schwung zu bringen. Ein Sittengemälde ghanaischen Landlebens, aber auch eines Aufbruchs aus den Zwängen, wie sie jede Dorfgemeinschaft dieser Welt für ihre Kinder bereithält.
Etwa ein Drittel des Panorama-Programms macht Dokumente aus. Zwei Werke sind bereits zu vermelden: "Don't Blink - Robert Frank" von Laura Israel ist ein außerordentlich lebensvolles, sehr organisches Portrait des Fotografen und Filmemachers. Ein Kaleidoskop des kulturellen Lebens im jüdischen New York. Frank steuert mal launisch und unzufrieden, dann wieder leutselig und ironisch durch seine späten Jahre. William S.Burroughs, Allen Ginsberg, Ed Lachman, Musiker Lou Reed, Patti Smith, die Band Bauhaus - Franks Leben und Schaffen enthüllt ein Füllhorn an Inspiration. Aus Rumänien kommt "Hotel Dallas" von Livia Ungur und Sherng-Lee Huang: Der Film untersucht den prägenden Einfluss einer TV-Serie auf eine Kultur im Umbruch. Mit untergründigem Humor, Lust und Fantasie führt Livia Ungur den Star der Serie Patrick Duffy und uns durch ihr Rumänien - ein Land, das noch nicht aufgehört hat, von besseren Zeiten zu träumen.
Der weltweit einzige LGBTIQ – kurz: queere - offizielle Filmpreis auf einem A-Festival feiert 30-jähriges Jubiläum: der Teddy Award. Aus dem Panorama hervorgegangen, wird der Preis seit 1987 in den Kategorien Kurz-, Dokumentar- und Spielfilm an queer-relevante Filme aus dem gesamten Berlinale-Programm vergeben und ist sich inzwischen weltweiter Aufmerksamkeit sicher.
Das Jubiläumsprogramm zeigt insgesamt 16 Filme. Bevor 1987 den damals noch unbekannten Regisseuren Gus Van Sant (für die Kurzfilme "Five Ways to Kill Yourself" und "My New Friend") und Pedro Almodóvar (für den Spielfilm "Law of Desire") die Teddys überreicht werden konnten, hatten schon längst Filmemacherinnen wie Ulrike Ottinger, Greta Schiller oder die seit Oktober 2015 schmerzlich vermisste Chantal Akerman und Filmemacher wie der Spanier Agustí Vilaronga, der Israeli Dan Wolman oder der auf der Berlinale vielgezeigte Lothar Lambert die Existenz einer Filmkultur bewiesen, die weit über den heteronormativen Mainstream hinausweist (ganz zu schweigen von den bekannten Größen eines dezidiert schwulen Kinos wie Rosa von Praunheim, Werner Schroeter, Rainer Werner Fassbinder oder Derek Jarman).
Der Teddy 2016 feiert mit einem Jubiläumsprogramm selten gesehene Werke, die teils vor der Preisgründung entstanden und diesen überhaupt erst notwendig machten. Als Besonderheit zeigt das Panorama in diesem Zusammenhang die Weltpremiere der Erst-Restauration von "Anders als die Andern" aus Deutschland im Jahre 1919. Der Film von Richard Oswald ist der erste schwule Film der Filmgeschichte. Die Restaurierung wurde vom Outfest Legacy Project / UCLA Film & Television Archive in Los Angeles durchgeführt und markiert die Notwendigkeit der Archivierung auf 35mm, dem bislang einzigen verlässlichen Archivmedium.