Die Retrospektive der 66. Internationalen Filmfestspiele Berlin widmet sich dem Jahr 1966 und damit einem Wendepunkt im deutschen Kino, der fünfzig Jahre zurückliegt. Damals herrscht Aufbruchstimmung: Im Westen stellen sich Autorenfilmer den Widersprüchen der Wirtschaftswunderzeit, im Osten hinterfragen junge Regisseure den sozialistischen Alltag. Doch während dem Neuen Deutschen Film der internationale Durchbruch gelingt, werden in der DDR infolge des 11. Plenums des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im Dezember 1965 rund die Hälfte aller DEFA-Spielfilme verboten, die 1966 in die Kinos hätten kommen sollen. Der parallele Aufbruch zu Neuem erfährt ein abruptes Ende. Der verpassten Chance einer wechselseitigen Rezeption setzt die Retrospektive eine Zusammenschau entgegen.
"Das Jahr 1966 steht für herausragende Filme in West und Ost, die künstlerisch neue Wege gingen. Die Retrospektive 2016 zeigt das selbstbewusste Aufbegehren und das tastende Erkunden einer Zeit im Umbruch", kommentiert Festivaldirektor Dieter Kosslick.
Die Retrospektive umfasst rund zwanzig Spiel- und Dokumentarfilme aus Kino und Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Zudem werden mehr als dreißig kurze und mittellange Filme, wie sie für die Zeit typisch waren, in Filmprogrammen und als Vorfilme zu sehen sein.
Vier Jahre nachdem die Verfasser des Oberhausener Manifests erklärt hatten: "Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen", erfährt der Neue Deutsche Film 1966 erstmals Anerkennung auf bedeutenden Festivals: Die Berlinale zeichnet Peter Schamonis Debütfilm Schonzeit für Füchse (BR Deutschland 1966) mit einem Silbernen Bären aus, Volker Schlöndorffs Film Der junge Törless (BR Deutschland / Frankreich 1966) erhält den Filmkritiker-Preis in Cannes und Alexander Kluges Abschied von Gestern (BR Deutschland 1966) den Silbernen Löwen in Venedig.
DEFA-Produktionen hingegen, die sich offen mit den Widersprüchen im "real existierenden Sozialismus" auseinandersetzen, werden verboten und erleben zumeist erst Jahre oder Jahrzehnte später ihre Uraufführung. Mit Hermann Zschoches Karla (DDR 1965/1990) und Jürgen Böttchers Jahrgang 45 (DDR 1966/1990) zeigt die Retrospektive zwei Verbotsfilme sowohl in den Zensurfassungen, die den Stand bei Abbruch der Arbeiten zeigen, als auch in den Verleihfassungen von 1990. So kann im Vergleich die Kluft ermessen werden. In zwei Versionen ist auch ein Kurz-Dokumentarfilm von Kurt Tetzlaff zu sehen: Es genügt nicht 18 zu sein (zensierte Version: Guten Tag – das sind wir, beide: DDR 1966).
Doch so unterschiedlich die Voraussetzungen auch waren: Die Autorenfilme aus dem Westen und die Studioproduktionen aus dem Osten haben vieles gemein. Die Protagonisten lassen sich treiben, begehren auf oder sind auf der Suche. So wie der Hafenarbeiter, der in einer schlaflosen Nacht durch die Straßen Hamburgs zieht (Jimmy Orpheus, Roland Klick, BR Deutschland 1966). Wie der rebellische Brigadier Balla alias Manfred Krug in Spur der Steine (Frank Beyer, DDR 1966), einem Film, der drei Tage im Kino lief, bevor auch er verboten wurde. Oder wie Helene Raupe in Fräulein Schmetterling (Kurt Barthel, DDR 1965 / Deutschland 2005), die nach individueller Entfaltung sucht. Der Film wurde zensiert und nie vollendet. In seiner experimentellen Formensprache kontrastiert er Helenes ungeschönten Alltag und ihr Scheitern in Jobs mit ihrer Fantasiewelt.
Meist jedoch ist für die Frauenfiguren in den DEFA-Filmen ein Beruf selbstverständlich, anders als im Westen. Themen wie Verhütung, Abtreibung oder Ehebruch sprechen die Protagonistinnen in Es (Ulrich Schamoni, BR Deutschland 1966), Playgirl (Will Tremper, BR Deutschland 1966) und Mahlzeiten (Edgar Reitz, BR Deutschland 1966/67) offen an. Ab 1966 wird in der Bundesrepublik die Filmausbildung mit dem Aufbau der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) und weiterer Filmschulen professionalisiert. In der Folge treten junge Regisseurinnen, die das deutsche Kino mitprägen werden, durch ihre ersten Arbeiten hervor. "Uns war es ein besonderes Anliegen, frühe Kurzfilme von Regisseurinnen wie Jeanine Meerapfel, May Spils, Helke Sander, Ula Stöckl und der DEFA-Dokumentaristin Gitta Nickel ins Programm aufzunehmen", so Rainer Rother, Leiter der Retrospektive und Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek.
Zur Retrospektive erscheint im Bertz + Fischer Verlag eine reichbebilderte Publikation in deutscher Sprache mit Essays namhafter Autoren und teils unveröffentlichten historischen Dokumenten und Fotos.
Erstmals ergänzt die Programmgalerie der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen die Retrospektive: In einer Sonderausstellung zeigt sie eine große Auswahl von TV-Sendungen aus dem Jahr 1966.
Zur Retrospektive wird es erneut zahlreiche Veranstaltungen in der Deutschen Kinemathek geben. The Museum of Modern Art, New York, ist seit 2011 Partner der Retrospektive und präsentiert die Filme im April 2016.
Unterstützt werden Hommage und Retrospektive der Berlinale bereits im dritten Jahr von ihrem Sektionspartner, der traditionsreichen Uhrenmanufaktur Glashütte Original, Co-Partner der Berlinale seit 2011.
Besonderer Dank für die Unterstützung gebührt auch German Films und den Partnern des diesjährigen Programms, der DEFA-Stiftung und dem Bundesarchiv-Filmarchiv.