Heute begann der Wettbewerb mit dem außer Konkurrenz gezeigten "Mr. Holmes". Das britische Drama von Bill Condon zeigt Sherlock Holmes (Ian McKellen) im Alter von 93 Jahren. Im Jahre 1947 lebt der pensionierte Meisterdetektiv zurückgezogen in einem Landhaus in Sussex. Holmes scheut die Menschen und widmet sich der Bienenzucht. Seine einzigen regelmäßigen menschlichen Kontakte sind seine Haushälterin Mrs. Munro und ihr sehr aufgeweckter kleiner Sohn Roger. Auch wenn seine Erinnerung stark nachgelassen hat, ist Holmes nach wie vor ein messerscharfer Analytiker.
Frei nach Mitch Cullin's Roman "A Slight Trick of the Mind" erzählt der Film von einem alten Mann, der von Erinnerungen an vergangene Fehler und unglückliche Entscheidungen gequält wird und der gegen Ende seines Lebens versucht mit sich selbst ins Reine zu kommen. Sherlock Holmes wird grandios von McKellen verkörpert. Leider vermag der Film trotzdem nicht so recht zu fesseln. Die Geschichte schreitet so bedächtig wie der altersschwache Holmes voran. Und auch wenn es auf dem Papier nach einer guten Idee klingen mag, dass "Mr. Holmes" einige Korrekturen zu seiner eigenen Legende vornimmt - wie die Tatsache, dass der berühmte Detektiv in Wahrheit lieber Zigaretten als Pfeife rauchte - ist dies auf der Leinwand nur mäßig interessant. Die ausgedachte Wahrheit zu einer fiktiven Figur würde wahrscheinlich gut im Kontext einer wirklich elaborierten Geschichte funktionieren. Nur hat "Mr. Holmes" keine solche zu bieten. Entsprechend verhalten fiel auch der Applaus im Kino aus. Zur Pressekonferenz erschienen unter anderem die beiden Darsteller Ian McKellen und Laura Linney. Der gut gelaunte 75-Jährige: "Sherlock Holmes gehört zu den größten Engländern, obwohl er ja nie gelebt hat. Es gab andere große Engländer, aber die waren nicht immer toll."
Wie erwartet glänzte der bekannt medienscheue Regisseur Terrence Malick, dessen "Knight of Cups" mittags im Berlinale-Palast gezeigt wurde, bei der Pressekonferenz durch Abwesenheit. Aber seine Stars Christian Bale und Natalie Portman standen zusammen mit den Produzenten Rede und Antwort. Großes Gelächter im Saal, als ein Journalist von den Akteuren wissen möchte, worum es in "Knight of Cups" eigentlich geht. Ja, wenn man das so genau wüsste...Bale erklärte den Journalisten, er habe nicht gewusst, was das übergeordnete Thema das Films gewesen sei. Malick habe den Darstellern lediglich erläutert, welche Charaktere sie spielten. "Es geht um einen Mann, dessen Träume und Wünsche sich alle weitgehend erfüllt haben, der aber eine große Leere in sich spürt. Er ist unterwegs und weiß nicht genau, wohin. Mehr wusste ich nicht", so der Brite.
"Knight of Cups" hatte zuvor bei der Pressevorführung Applaus geerntet. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich der Saal während der Vorführung konstant leerte. Dass Schlagen der Türen wurde ebenso zum Leitmotiv wie die Einblendungen der Namen von Tarot-Karten auf der Leinwand. Dass Malick's filmische Meditationen über das Leben und die Liebe nicht jedermanns und -fraus Geschmack sind, wurde auch schon durch das Seufzen und Stöhnen auf manchen Sesseln deutlich...
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Ebenfalls Applaus, aber kein Verlassen oder Stöhnen dann am Nachmittag beim dritten Wettbewerbsfilm, der aus dem Rahmen fällt: "El botón de nácar" (Der Perlmuttknopf) ist der einzige Dokumentarfilm im Wettbewerb. Der chilenische Beitrag von Patricio Guzmán reflektiert die Geschichte des Landes über das Thema Wasser. Noch schönere Bilder als bei Malick, dafür weniger bedeutungsschwangere Monologe und eine knackig kurze Spieldauer - die anwesenden Pressevertreter nahmen es mit Erleichterung auf.
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Wie sind Menschen, die alles haben? Dieser Frage geht der österreichische Regisseur Peter Kern in seinem Film "Der letzte Sommer der Reichen" in der Sektion "Panorama Spezial" nach, in der er von den Versuchen einer reichen Erbin erzählt, Glück und Liebe zu finden sowie ihre ennui zu überwinden. Also sucht sie eine Domina auf, findet aber dann doch in einer Nonne ihre Zuflucht, aber ein Auftragskiller scheint ihr Glück zu bedrohen. Bewusst stilisiert inszeniert, erinnert der Film ein wenig an eine Skandalversion von Viscontis "Tod in Venedig" und ist ein anstrengendes, aber herausforderndes Kinoerlebnis.
Sebastián Silva hat in seinem Film "Nasty Baby", der ebenfalls in "Panorama Spezial" lief, nicht nur Regie geführt und das Drehbuch geschrieben, sondern auch die Hauptrolle übernommen. Er spielt den schwulen Künstler Freddy, der mit seiner besten Freundin Polly (Kristen Wiig) ein Kind bekommen will. Allerdings stellen sich einige Schwierigkeiten ein – nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der zweiten Hälfte des Films, in der ein unerwarteter Handlungssprung passiert. Sicher spricht Sebastián Silva viele Themen an, aber letztlich fehlt seinem Film eine größere Stringenz in der Handlung.
In der Spätvorstellung gab es in der Forum-Sektion den Film "Les dos rouge" von Antoine Barraud zu sehen. Die Inhaltsangabe klingt sehr interessant: Ein berühmter Filmemacher (Bertrand Bonello) begibt sich zusammen mit einer exentrischen Kunsthistorikern in verschiedenen Kunstmuseen auf die Suche nach einer vollkommenen Darstellung des Unheimlichen. Das Ziel ist es, das Wesen des Unheimlichen in der Kunst so sehr zu verinnerlichen, dass er auch in seinen Filmen entsprechend wirkungsvolle BIlder kreieren kann. Doch diese Kunst macht etwas mit dem Filmemacher, das sich nicht zuletzt in der Form von auf seinem Rücken sich ausbreitenden roten Flecken zeigt.
In diesem Zusammenhang ist vom Stendhal-Syndrom die Rede, bei dem ein Betrachter so sehr von der Kunst ergriffen wird, dass er Rauschzustände respektive pychische Ausfälle bis hin zur Bewusstlosigkeit erfährt. Dario Argento hatte dem skurrilen Phänomen in seinem Film "The Stendhal Syndrom" ein würdiges Denkmal gesetzt. Antoine Barraud reiht jedoch im wesentlichen lediglich unendlich lange, inhaltsarme Dialoge über die Kunst und die Welt aneinander. Zwischendurch sieht man die großen Intellektuellen in Szenen, wie zum Beispiel auf einer Party beim Kiffen mit einem Gummimesser im Kopf. Um es kurz zu machen: "Les dos rouge" ist pseudointellektueller Kunst-Quark von der allerschlimmsten Sorte. Nach dem Ende des Films herrschte im Saal zunächst betretene Stille. Erst nach dem Ende des Abspanns setzte höflicher Beifall ein. Beim anschließenden Q/A wusste Antoine Barraud bereits die allererste Frage nicht vernünftig zu beantworten...
Gemischte Gefühle auf der Berlinale: "Knight of Cups" ist sicherlich nicht jedermanns Cup of Tea und dürfte die Rezensenten spalten und die Jury wohl eher kalt lassen. Da dürfte (ausgerechnet) eher schon der einzige Dokumentarfilm des Wettbewerbs ein Anwärter auf den Goldenen Bären sein.