Renato Vallanzasca wird am 4. Mai 1950 in der Via Nicola Antonio
Porpora 162 in Mailand-Lambrate geboren, wo seine Mutter ein
Bekleidungsgeschäft betreibt. Er nimmt den Nachnamen der Mutter an,
denn der Vater, Osvaldo Pistoia, ist bereits mit Rosa Pescatori
verheiratet, mit der er zwei Kinder hat.
Vallanzascas kriminelle Laufbahn beginnt schon in der Kindheit. Im
Alter von acht Jahren gerät er zum ersten Mal mit der Justiz in
Berührung, allerdings nicht wegen Diebstahls, sondern weil er
versucht, den Tiger eines in der Nähe gastierenden Zirkus aus
seinem Käfig zu befreien. Am darauffolgenden Tag holt die Polizei
den Jungen, der gerade mit seinen Freunden Fußball spielt, und
bringt ihn in die Jugendhaftanstalt Cesare Beccaria, wo er in der
Folge häufig einsitzen wird. In der Zwischenzeit zieht der junge
Renato zu „Tante Rosa” (Rosa Pescatori) in die Via
degli Apuli in den im Südosten Mailands liegenden Stadtteil
Giambellino, also praktisch auf die gegenüberliegende Seite der
Stadt.
Hier gründet er seine erste Bande, deren minderjährige Mitglieder
vor allem kleine Ladendiebstähle begehen – Spritzgebäck,
Sammelkarten und Comics sind die erste Beute. Trotz seiner jungen
Jahre tut sich Vallanzasca schon jetzt als Anführer hervor und
macht sich im Rahmen gelegentlicher
„Gemeinschaftsprojekte“ auch in der Mailänder Unterwelt
bereits einen Namen. Aber relativ schnell werden ihm die
altmodischen Regeln dieser Welt zu eng. Vallanzasca beschließt,
sich mit einer eigenen Bande selbstständig zu machen: Seine
„Comasina-Bande“ wird in kurzer Zeit die stärkste und
grausamste Verbrecherbande, die in jenen Jahren in Mailand ihr
Unwesen treibt und mit den Kriminellen um Francis
„Engelsgesicht“ Turatello rivalisiert.
Schnell häuft Vallanzasca durch Diebstahl und Raub nicht
unerhebliche Reichtümer an und beginnt, sich einen kostspieligen
Lebensstil zu leisten – Designerkleidung, Luxusautos, schöne
Frauen. Der gut aussehende junge Mann erhält den Spitznamen
„der schöne René“ (den er selbst hasst). Wegen eines
Raubs in einem Supermarkt folgt im Jahr 1972 die erste Festnahme
durch das mobile Einsatzkommando der Mailänder Polizei unter der
Leitung von Achille Serra. Serra berichtet, dass Vallanzasca sich
während der Wohnungsdurchsuchung die goldene Rolex-Uhr vom
Handgelenk abzog, auf den Tisch legte und sagte: „Wenn du es
schaffst, mir was zu beweisen, gehört sie dir!” Nur wenige
Minuten später fand der Polizeibeamte Oscuri im Papierkorb
Papierschnipsel, aus denen hervorging, wie die Räuber die Beute aus
dem Supermarkt untereinander aufgeteilt hatten.
Vallanzasca wird zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die er
zunächst im Mailänder Gefängnis San Vittore absitzt. Viereinhalb
Jahre und nur ein Gedanke: einen Weg zu finden, um auszubrechen.
Ein Musterhäftling war Vallanzasca sicherlich nie. Abgesehen von
den misslungenen Ausbruchsversuchen, von Raufereien und
Schlägereien nahm er unter anderem aktiv an mehreren
Gefangenenrevolten teil, die zu jener Zeit für Unruhe in den
italienischen Gefängnissen sorgten. Aus diesem Grund wurde er
während der ersten viereinhalbjährigen Freiheitsstrafe häufig
verlegt und lernte dabei 36 Haftanstalten kennen. Bis zu dem
Zeitpunkt, an dem er einen Plan ausklügelt, um sich absichtlich mit
Hepatitis zu infizieren, indem er sich Urin direkt ins Blut
spritzt, faule Eier isst und Propangas inhaliert, um ins
Krankenhaus verlegt zu werden. Dort lernt er, dass jeder seinen
Preis hat: Mithilfe eines Wachpostens, den er mit 3 Millionen Lire
besticht, gelingt ihm die Flucht. Das ist im Juli 1976.
Wieder auf freiem Fuß, schart er seine Bande um sich, mit deren
Hilfe er ganz Mailand in Angst und Schrecken versetzt. Siebzig
Raubüberfälle gehen auf das Konto der Verbrecher, die eine blutige
Spur hinter sich lassen – unter den Opfern sind unter anderem
vier Polizisten, ein Arzt und ein Bankangestellter. Am 23. Oktober
1976 wird im toskanischen Montecatini der Karabiniere Bruno
Lucchesi getötet, am 30. Oktober töten zwei Bandenmitglieder im
Drogenrausch den Passanten Umberto Premoli bei dem Versuch, sein
Auto zu stehlen. Am 13. November trifft es im apulischen Andria den
Bankangestellten Emanuele di Ceglie. Am 16. November wird der
Polizeiobermeister Giovanni Ripani, einer der besten Männer des
Mailänder Überfallkommandos, auf der Piazza Vetra in Mailand
getötet. Am 7. Februar 1977 werden bei der Mautstation Dalmine zwei
Beamte der Straßenpolizei, Renato Barborini und Luigi
d’Andrea, kaltblütig ermordet. Ab diesem Zeitpunkt wendet
sich die Bande einem weniger risikoreichen und einträglicheren
Geschäft zu: Entführungen. Zu Vallanzascas Entführungsopfern gehört
auch Emanuela Trapani, Tochter eines Mailänder Unternehmers, die
rund anderthalb Monate lang, von Dezember 1976 bis Januar 1977,
gefangen gehalten wird. Ihre Freilassung erfolgt gegen ein Lösegeld
von einer Milliarde Lire (ca. 500.000 Euro). Die Zeitungsberichte
über eine angebliche Liebesgeschichte zwischen dem Entführer und
seinem Opfer werden später von Vallanzasca selbst dementiert.
Unmittelbar nach der Entführung und der Ermordung von zwei
Polizisten der Straßenpolizei in Dalmine, sucht der verletzte
Vallanzasca in Rom Unterschlupf, wo er erneut festgenommen wird. Es
ist der 15. Februar 1977, Vallanzasca ist zu diesem Zeitpunkt knapp
27 Jahre alt.
Wieder im Gefängnis, wo er täglich Hunderte von Briefen von
Bewunderinnen erhält, freundet er sich vorübergehend mit seinem
ehemaligen Feind und Boss der Mailänder Unterwelt, Francis
Turatello, an. Turatello wird im August 1981 in der sardischen
Haftanstalt Bad e’ Carros auf besonders grausame Weise
umgebracht. Im April 1980 unternimmt Vallanzasca einen
Fluchtversuch aus dem Mailänder Gefängnis San Vittore. Während des
einstündigen Hofgangs ziehen die Gefangenen auf einmal drei
Pistolen, die sie sich auf ungeklärte Weise beschafft haben. Mit
dem Gefängnisbeamten Romano Saccoccio als Geisel erkämpft sich eine
Gruppe von Häftlingen den Weg nach draußen. Im Verlauf der darauf
folgenden Schießerei in den Straßen Mailands und in einem U-
Bahn-Tunnel wird Vallanzasca verletzt. Damit endet die waghalsige
Flucht für ihn und weitere neun Mitgefangene.
Nach seiner Verlegung in das Hochsicherheitsgefängnis Novara im
Jahr 1981, zettelt Vallanzasca dort eine Gefangenrevolte an, in
deren Verlauf einige Überläufer, die als Kronzeugen für die Justiz
arbeiten und von Vallanzasca als Verräter angesehen werden, das
Leben verlieren. Unter den Opfern ist auch das noch junge
Bandenmitglied Massimo Loi, der fest entschlossen war, seine
kriminelle Vergangenheit hinter sich zu lassen, um ein neues Leben
zu beginnen. Mit einem Messer bewaffnet und unterstützt von
Mitgefangenen soll Vallanzasca den gerade einmal Zwanzigjährigen
durch zahlreiche Stiche in Brust und Körper getötet und
anschließend enthauptet haben.
Obwohl Vallanzasca daraufhin unter verschärften Haftbedingungen
einsitzt, gelingt ihm am 18. Juli 1987 erneut die Flucht: Er
klettert aus einem Bullauge der Fähre, die ihn von Genua zur
Haftanstalt Asinara auf Sardinien bringen soll. Die fünf bei der
Überführung als Wachen abgestellten Karabinieri, von denen keiner
älter als 25 ist, werden später vor einem Militärgericht
verurteilt. Vallanzasca kehrt nach Mailand zurück und begibt sich
von dort nach Grado, wo er die Identität eines Journalisten annimmt
und sich als Tourist ausgibt, bis er zufällig bei einer
Straßenkontrolle festgenommen wird. Er leistet keinen Widerstand.
Die Karabinieri hatten ihn anfangs nicht erkannt. Zurück im
Gefängnis, unternimmt er im Jahr 1995 einen erneuten
Ausbruchsversuch, dieses Mal aus der Haftanstalt Nuoro. Seine
Rechtsanwältin, zu der Vallanzasca eine starke Bindung aufgebaut
haben soll, wird der Beihilfe verdächtigt und angeklagt. Ab dem
Jahr 1999 sitzt er im Hochsicherheitsgefängnis von Voghera
ein.
Vallanzasca wurde rechtskräftig zu vier Mal lebenslänglicher Haft
und zusätzlich zu einer Freiheitsstrafe von 260 Jahren, einem Monat
und zwanzig Tagen verurteilt – ein Strafmaß, das einen nicht
weniger beeindruckenden kriminellen Lebenslauf widerspiegelt:
sieben Morde, drei Entführungen und mindestens 70 Raubüberfälle.
Insgesamt vierzig Jahre und damit den Großteil seines Lebens hat
der Sechzigjährige hinter Gittern verbracht. Kaum ein anderer
Straftäter hat in Italien so viele Jahre im Gefängnis verbüßt. Im
Jahr 2005 stellt Vallanzasca ein Gnadengesuch bei dem italienischen
Staatspräsidenten Ciampi. Gewährt werden ihm lediglich drei Stunden
Ausgang, um seine kranke Mutter zu besuchen.
Im Juli 2006 bittet Vallanzascas Mutter Marie bei Staatspräsident
Napolitano und Justizminister Mastella für ihren Sohn um Gnade. Im
September 2007 erfolgt die Mitteilung, dass der Staatschef das
Gnadengesuch abgewiesen hat. Vallanzasca sitzt also seine Strafe
weiterhin im Mailänder Gefängnis Opera ab. Am 8. Mai 2008 erfährt
die Öffentlichkeit von Vallanzascas Heirat mit seiner
Jugendfreundin Antonella D’Agostino. Die Ehe wurde am 5. Mai
2008 standesamtlich geschlossen und von dem bekannten
Fernsehmoderator Vittorio Sgarbi, damals Kulturdezernent von
Mailand, offiziiert. Gemeinsam hatten Vallanzasca und Antonella
D’Agostino 2007 ein Buch über ihre Liebesgeschichte mit dem
Titel „Brief an Renato“ (Lettera a Renato)
geschrieben.
Seit dem 8. März 2010 hat Renato Vallanzasca die Erlaubnis,
außerhalb des Gefängnisses einer Arbeit nachzugehen. Er darf die
Haftanstalt um 7.30 Uhr verlassen und muss sich um 19.00 Uhr wieder
zurückmelden. Vallanzasca arbeitet in einem Lederwarengeschäft und
außerdem in einer sozialen Kooperative im Mailänder Raum. Diese
Möglichkeit erhielt er aufgrund einer Sondererlaubnis nach Artikel
21 des italienischen Strafvollzugsgesetzes, die auch für Gefangene
mit lebenslanger Freiheitsstrafe gilt, sofern bereits mehr als zehn
Jahre der Strafe verbüßt wurden.