FBW-Bewertung: Blinder Fleck (2025)
Prädikat besonders wertvoll
Jurybegründung: Ein schwarzer Punkt auf einem weißen Quadrat, langsam wächst er an, setzt Ruhepunkte zwischen Interviews und Achtungszeichen zum Nachdenken gleichermaßen im Verlaufe des Filmes BLINDER FLECK. Am Ende wird die Leinwand schwarz sein. Es ist das Ausmaß des Nichtwissen-Wollens, die große Fehlstelle in der öffentlichen Debatte, der blinde Fleck.Filmemacherin Liz Wieskerstrauch hat lange und akribisch zum Thema ritualisierte sexuelle Gewalt recherchiert, hat eine Vertrauensbasis geschaffen, die es betroffenen Frauen ermöglicht, über erlebte unvorstellbare Verbrechen zu sprechen. Das, so die Jury in ihrer intensiven Diskussion zum vorliegenden Dokumentarfilm, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. BLINDER FLECK ist ein Plädoyer für die Opfer ritualisierter Gewalt, die oft noch stigmatisiert werden, weil man ihnen nicht glaubt und die dagegen ebenso ankämpfen müssen wie gegen die Traumata, die Zerstörung ihrer Kindheit und ihrer Persönlichkeit.
Der Film arbeitet mit einer thematische Zweiteilung. Die Jury sieht eine besondere Fokussierung und Stärke in der Konzentration der Aufarbeitung beider Themen. Zum einen legt Liz Wieskerstrauch sexuelle Gewalt, die immer wieder und in bestimmten Zusammenhängen vor allem an Kindern und jungen Mädchen verübt wird, offen und ordnet sie klar als ritualisiert ein. Auf der anderen Seite begegnen wir Opfern, die an einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung leiden. Sie leben als multiple Persönlichkeiten, um das Erlebte überleben zu können. Verarbeitung ist in diesen Fällen kaum möglich. Der Film, der in sich schlüssig durch das Thema führt, zeigt die Auswirkungen der Verbrechen, macht die persönlichen Schicksale greifbar.
Die Jury lobt die große Bandbreite der Interviewparter*innen. Neben den Opfern hören wir Jurist*innen, Sozialpsycholog*innen, Therapeut*innen, Psychologen und Kriminalisten sowie einen Wissenschaftler. Diese multi-perspektivische Draufsicht verleiht den bearbeiteten Themen große Glaubwürdigkeit, das systemische Versagen wird beeindruckend auf den Punkt gebracht, so die Jury.
Die Fälle sind zum Teil Jahre bis Jahrzehnte alt, das Umfeld aus dem die Täter kommen bekannt, wie die eigene Familie, Nachbarschaft oder Vertreter der Kirche. Der neue Tatort Internet, der nach aktuellen Recherchen anderer Journalist*innen und Filmemacher*innen eine ganz neue Gefahr für Kinder bildet, noch weniger sichtbar noch weniger greifbar, kommt nur am Rande vor. Zeigt aber, so die Jury, wie sicher sich die Täter fühlen können und wie wichtig es ist, diesen blinden Fleck sichtbar zu machen.
Besonders überzeugen die Jury die formale Strenge und die Lösung zur Bildgestaltung.
Interviewpartner*innen sind eingebettet in ihr Lebens- und Arbeitsumfeld. Die Fragestellerin selbst bleibt behutsam und zurückhaltend im Hintergrund. Wir hören die Fragen, bis auf ein, zwei Nachfragen, nicht. Dieser sensible Umgang, vor allem mit den betroffenen Frauen, stärkt die Geschichten, die sie, auch immer wieder mit wechselnder Persönlichkeit erzählen.
Die Jury hebt besonders hervor, dass die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Thema nicht verschwiegen werden. Der Kriminalbeamte Axel Petermann, der jahrelang Hinweisen nach ging und erfolglos ermittelte, kann ebenso sprechen, wie der junge Kriminalist, dem das, was er ermittelte, selbst psychisch zu schaffen macht. Er bleibt anonym, weil Ermittlungen nicht öffentlich werden. Ellen Engel, die Opferanwältin, die von zahlreichen Fällen berichtet, für die es oft unmöglich ist, eine belastbare Beweislage vor Gericht beizubringen, zeigt dennoch die Arbeit für die Opfer klar auf.
Das Krankheitsbild der multiplen Persönlichkeit erläutern der Kindertraumatherapeut Dr. Andreas Krüger und der Psychotraumatologe Dr. Harald Schickedanz allgemeinverständlich. Die Schwierigkeiten zur Diagnostik und die therapeutischen Möglichkeiten werden ebenso aufgezeigt. All das hat die Jury überzeugt.
Zwei kritische Punkte der Diskussion sollen hier noch einfließen. In zwei Fällen unterbricht Liz Wieskerstrauch ihre sehr gut gewählte formale Aufstellung. Es gibt Spielszenen, in der eine junge Beamtin ein Kind verhört. Wir hören Texte aus dem Off. Erst am Ende im Abspann weist die Filmemacherin die Szenen als Spielszenen aus. Diese Momente im Film irritieren einen Teil der Jury, zumal Wieskerstrauch mit dieser Inszenierung ihr Thema aufmacht, in ihren Film startet. Der Grat, durch das Inszenatorische an Glaubwürdigkeit zu verlieren, ist schmal. Die Jury sieht, dass mit Alina Levshin sich eine prominente Unterstützerin sehr offen zu diesem Film stellt. Hier, so die Jury, hätte es der Sache gutgetan, die Inszenierung von Beginn an offen auszuweisen. Störend empfand die Jury vor allem, die zusätzliche Dramatisierung auf der Bildebene über das rote Kleid für das Kind, das die schwarz-weißen Bilder der Inszenierung kontrastiert. Die Assoziierungen führen in die Irre.
Eine zweite Störung entsteht auf der Bildebene im Interview mit einer betroffenen jungen Frau, deren gespaltene Persönlichkeit über einen Splitscreen verstärkt wird. Die Jury diskutiert den Umgang mit den Opfern, die nicht ausgestellt werden sollten. Zumal die psychische Krankheit bei allen Betroffenen in den Gesprächen deutlich zutage tritt.
BLINDER FLECK ist ein Film mit großer Wucht, der schmerzt und uns als Zuschauende nicht raus lässt. Es überwiegen positiv die Sorgfalt im Umgang mit den Interviews und die Vielfalt der Perspektiven, die filmisch herausragend zusammen gehalten werden.
Seit 2001 bearbeitet Liz Wieskerstrauch die Themen Gewalt an Kindern und das Leid multipler Persönlichkeiten, gibt nicht auf, öffentlich zu machen, was immer noch eher im Verborgenen bleibt. Nur weil wir uns als Menschen nicht vorstellen können oder wollen, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind, fehlt uns der Glaube daran. Die Realität ist leider eine andere. BLINDER FLECK ist ein mutiger Film.
Die Jury vergibt nach einer interessanten Debatte das Prädikat ?besonders wertvoll?.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)