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FBW-Bewertung: Die Saat des heiligen Feigenbaums (2024)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Mahammad Rasoulofs Film lässt das Publikum in jedem Fall nicht unberührt. Mit beeindruckender Konsequenz und Intensität erzählt der iranische Regisseur in DIE SAAT DES HEILIGEN FEIGENBAUMS vom Würgegriff der Diktatur und davon, wie er nicht nur gegen Regime-Gegner angewandt wird, sondern auch die angepassten, ja vom System profitierenden Familien untergräbt und schlussendlich zerstört.

Die Jury war beeindruckt davon, wie differenziert und vielfältig Rasoulof sein Familienporträt zeichnet, in dem der Vater als Untersuchungsrichter dem Unterdrückungssystem dient, und die Mutter zuerst als heillose Konformistin erscheint, die die materiellen Vorteile der Position ihres Mannes zu schätzen weiß, während die beiden Töchter ihre Familienloyalität vor eine schwere Prüfung gestellt sehen, als im Nachhall des in Sittenpolizeigewahrsams erlittenen Tods von Jina Mahsa Amini Proteste auf den Straßen Teherans losbrechen.

Der Film gesteht jeder seiner Figuren mehrere Dimensionen zu: Der Vater ist am Anfang ein unwilliger Mitläufer, der sich gern vor der direkten Beteiligung an Todesurteilen gedrückt hätte. Als dann aber seine Dienstwaffe verschwindet und er annehmen muss, dass eine seiner Töchter sie entwendet hat, packt ihn nicht nur die Angst vor den Konsequenzen, die der Verlust der Waffe auf seiner Arbeit haben könnte, sondern er fürchtet den Kontrollverlust über die eigene Familie und damit auch über das eigene Leben.

Seine Ehefrau, die am Anfang als die fast schamlosere Mitläuferin erscheint und die sich bei der Nachricht über die Beförderung ihres Mannes schon auf eine größere Dienstwohnung freut, entpuppt sich im Lauf des Films nicht nur als unerwartet klug handelnde Frau, die in Krisensituationen einen kühlen Kopf bewahrt, sie zeigt sich auch als die moralisch Stärkere, wenn es darum geht, anderen zu helfen, auch wenn das heimlich geschehen muss. Schließlich stellt sie sich hinter ihre "progressiveren" Töchter, auch wenn sie sie anfangs noch zu angepasstem Benehmen angehalten hat.

Die ältere Tochter findet im Lauf des Films gewissermaßen ihre Stimme, und den Mut den Eltern zu widersprechen. Die jüngere schließlich erweist sich als die eigentliche Rebellin der Familie, die aus ihrer Beobachterinnenhaltung als jüngstes Familienmitglied ihr eigenes Weltbild gewonnen hat und die Autorität des bis vor kurzem noch von ihr vergötterten Vaters in Frage stellt.

Mit großartig agierenden Schauspielern, einem bewundernswerten Gespür für Timing und dem gekonnten Einbezug der Rolle, die soziale Medien in solchen Situationen spielen, entwirft Rasoulof ein grandioses Drama, bei dem man als Zuschauer stets den Gewaltexzess noch fürchtet - bis man dann feststellen muss, dass die Gewalt immer schon da war. Die Konfliktzonen unterschiedlichen Generationen und Geschlechtern bringt der Film schließlich zu einem im besten Sinn ambivalenten Ende zusammen. Dass dieses Regime zum Tod verurteilt ist und eine brüchige Unterlage hat, führt er bildlich vor Augen, weshalb das Ende zwar tragisch, zugleich aber auch fast optimistisch wirkt.

Die Jury vergibt einstimmig das höchste Prädikat ?besonders wertvoll?.






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