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FBW-Bewertung: Das Flüstern der Felder (2023)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Basierend auf dem Roman ?Die Bauern? von Wladyslaw Reymont, der vor genau 100 Jahren dafür den Literaturnobelpreis erhalten hat, ist mit DAS FLÜSTERN DER FELDER ein fantastischer, epischer, dabei dichter Film entstanden. Das Regieduo DK und Hugh Welchman hat dabei nicht nur auf den ersten Blick ein visuell einzigartiges künstlerisches Filmwerk erschaffen. Mit der Technik, einen Spielfilm nachträglich in Gemäldeform nach- beziehungsweise zu übermalen, ist etwas Großes und Neues entstanden: Ausgehend von der Dorfgeschichte Ende des 19. Jahrhunderts im östlichen Polen, geht auch der Malstil im Stil des Impressionismus vor, erzeugt aber in Form der gemalten Bilder eine Stop-Motion-Atmosphäre. Dabei erinnert er im Auftrag der Ölfarbe auch an Van Gogh, um dann im Laufe des Films zum Realismus oder Naturalismus ländlicher Sujets überzugehen und sich dann zunehmend ?verflüssigt?. Gegen Ende schimmert das ursprüngliche Filmmaterial immer stärker durch. So wird die Geschichte aus der Stilisierung stärker in die filmrealistische Wirklichkeit geholt.
Allein das alles ist ein filmästhetisch bemerkenswerter Wurf, so dass eine Einbettung in die Gattung des Animationsfilms DAS FLÜSTERN DER FELDER nur unzureichend beschreiben würde. Und doch sind es auch die kunsthistorischen Reminiszenzen, die die Geschichte für uns intensivieren, weil es diese Stile sind, mit der wir visuell diese Zeit verbinden.
Aber obwohl eine Gemäldeästhetik Grundlage ist und so fast jede Einstellung auch Gemäldequalität hat, sieht man dem Film gleichzeitig auch die darunterliegende Spielfilmqualität an ? und hier besonders die ästhetische Bildfindungen. So erweckt das Durchstreifen eines Bauern- und Kunsthandwerkmarktes, das etwas verführerisch Mäanderndes hat und wo die Zwischenvorhänge der Stände optisch zu einer Art Schleiern werden, eine Schleiertanzphantasie. Und die Dorftänze in Wirthäusern werden tänzerisch und choreografisch so elegant und komplex zugleich angelegt, dass der Film auch auf dem Gebiet der Dynamik vollendet inszeniert ist. Dabei entsprechen sich hier Form und Inhalt gelungen. Im Wirbel des Tanzes schlägt die Fröhlichkeit und Ausgelassenheit unter Alkoholeinfluss fast ins geifernd Brutale um. Bei aller traditionellen Tracht und slawischer Volksmusik kommt so subtil getanzter Sex und aufreizender Rock?n?Roll zum Vorschein. Die junge Jagna (Kamila Urzedowska) spannt hier den Bogen ihrer Ausstrahlung, überspannt ihn: sie ist im Rausch nicht mehr die Braut des mächtigen alten Großbauern, nicht mehr die momentane Tanzpartnerin von dessen Sohn, dessen Geliebte sie heimlich auch ist. Sie ist in der Phantasie aller Männer deren Braut und für alle Frauen im Raum die gefährliche erotische Konkurrenz, die Hure, die Hexe. Und diese Freiheit, dass es ihr egal ist, was man redet, ist die eigentliche grenzüberschreitende, gesellschaftssprengende Provokation. Heimliche Liebschaften darf es, muss es wahrscheinlich geben. Aber vor aller Augen die Grenzen des Anstandes überschreiten, ist lebensgefährlich. Das stellt der Film in einem pittoresken Reigen der Jahreszeiten dar.
Ausgehend von der Malerei wird im Film auch farblich pointiert gearbeitet: Wenn die Hauptfigur Jagna tanzen geht oder Hochzeit feiern muss, ist sie farblich zwar in die traditionelle Tracht gehüllt, sticht aber immer heraus: mit intensivem rot, blau oder weiß, dass ihre Umgebung eben nicht so dick aufträgt. Damit ist die Provokation ihrer Schönheit, ihres Selbstbewusstseins, ihrer relativen Ungebundenheit, ihres Sexappeals hervorgehoben, so dass auch auf dieser Ebene das unterstrichen wird, was sie in der Geschichte ins Verderben reißen wird: Neid, Eifersucht, Lust nach ihr, Gier. Eine Gemeinschaft fordert Anpassung, Abweichung wird mit Ausgrenzung sanktioniert.
Denn DAS FLÜSTERN DER FELDER ist die Geschichte einer Dorfgemeinschaft, die gefangen in Traditionen, Religion, Sitten und Moral sich Projektionsflächen ihrer Unzufriedenheiten sucht und so Zielscheiben ihrer Aggressionen schafft und sich zunehmend brutalisiert.
Das packende und durchschlagende der Botschaft des Filmes und der Darstellung von Kollektivverhalten ist die überzeitliche und sogar übergesellschaftliche Allgemeingültigkeit, was den Film - bei allem Realismus ? auch zu einer Parabel macht. Für Exzesse, die sich noch durch das gesamte 20. Jahrhundert ziehen und natürlich auch in unser 21. Jahrhundert hineinragen.
Somit gelingt es den Filmemachern ein großes Feld an potenziellen Zuschauern anzusprechen: historisch Interessierte, Freunde epischen literarischen und filmischen Erzählens bis hin zu Freunden von Animationsfilmen für Erwachsene, wobei ? gerade auch durch die junge Frau als Identifikationsfigur ? auch ein älteres jugendliches Publikum angesprochen werden kann. Das alles macht den Film auch auf der Zuschauerebene universell.
Positiv aufgefallen ist der Jury dabei auch, dass alle Figuren psychologisch extrem gut ausgeleuchtet sind, wobei hier ein einfaches Gut-Böse-Schema komplett vermieden wird. Das charakterliche Schillern aller Figuren ist bewusst eingesetzt, so dass sich der Zuschauer selbst moralisch orientieren muss. Wobei die grundsätzliche Anklage gegen den Gewaltausbruch gegen die Hauptfigur Jagna als Aussage bestehen bleibt.
Als gelungen empfindet die Jury auch, dass trotz patriarchaler Strukturen das Männliche nicht modernistisch Beifall heischend dämonisiert wird, sondern auch gleichermaßen Frauen die Aggressionsspirale weitertreiben. Ob dies auch aus unbewusster Aggression über die eigenen eingeschränkten Machtmöglichkeiten von Frauen im 19. Jahrhundert geschieht, kann der Zuschauer für sich beantworten. Aber auch die Männer sind im Gesellschaftskorsett und in genauen Hierarchien gefangen. Dass auch auf der Bildebene der Jahreszeitenkreis mit seinen Dorfriten und -festen sich dabei mehrmals dreht, schafft die Möglichkeit großer landschaftlicher und kultureller Schönheit und abwechslungsreicher Farbigkeit, ohne jemals in Kitsch zu verfallen.
Kritisch von einigen Jurymitgliedern wurde die explizite Darstellungen von Gewalt angemerkt und der sexualisierte Blick auf die jungen Frau, die aber letztlich mit ?Realismus? und der Darstellung der erotischen Wirkung der jungen Frau auf die rigide Gemeinschaft begründet werden kann.
Im Anschluss an eine spannende Diskussion hat sich die FBW-Jury entschieden, dem Film das Prädikat BESONDERS WERTVOLL zu verleihen.






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