Gagarin - Einmal schwerelos und zurück (2020)
Gagarine
Französisches Drama über einen Träumer, dessen Träume sich verselbstständigen.Kritiker-Film-Bewertung:User-Film-Bewertung :
Filmsterne von 1 bis 5 dürfen vergeben werden, wobei 1 die schlechteste und 5 die beste mögliche Bewertung ist. Es haben insgesamt 2 Besucher eine Bewertung abgegeben.
Der 16-jährige Youri (Alseni Bathily) und sein bester Freund Houssam (Jamil McCraven) leben in der Cité Gagarine, einem 1963 errichteten, nach dem Kosmonauten Juri Gagarin benannten Sozialbau vor den Toren von Paris. Das gigantische Gebäude, in dem mehr als 3000 Menschen wohnen, ist marode. Mit auf eigene Faust erledigten Reparaturen, für die Youri und Houssam bald auch das in der Nähe lebende Roma-Mädchen Diana (Lyna Khoudri) rekrutieren, versuchen sie, das drohenden Aus für ihr liebgewonnenes Gebäude zu verhindern.
Als die zuständige Behörde den Daumen endgültig senkt und der Abriss beschlossene Sache ist, kehren die Bewohner dem großen Bau aus roten Backsteinen einer nach dem anderen den Rücken. Auch Houssam und die ältere Fari (Farida Rahouadj), die Youri zu einer Ersatzmutter geworden ist, ziehen schließlich weg. Bis irgendwann nur noch Youri, Diana und der Drogendealer Dali (Finnegan Oldfield) die Stellung halten.
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Filmkritik
"Gagarin": Wenn Träume(r) fliegen lernen
Vorsicht Verwechslungsgefahr! Bei diesem Film handelt es sich nicht um das russische Biopic aus dem Jahr 2013 über das Leben des berühmten Kosmonauten. Auch kommt Juri Gagarin (1934–1968) in diesem Film nur ganz kurz bei der Einweihung der Cité Gagarine vermittels Archivaufnahmen vor. Es ist eben jener gigantische rote Wohnblock vor den Toren von Paris, der dieser Mischung aus Coming-of-Age- und Sozialdrama seinen Namen gibt.
Die Errichtung der Cité Gagarine, die 1963 eingeweiht wurde, war als Antwort auf eine lang andauernde Wohnungskrise in und um Paris gedacht. Viele der an die Hauptstadt angrenzenden Städte waren damals kommunistisch regiert. Dass in diesem "roten Gürtel", der Frankreichs Kapitale umschloss, in doppeltem Sinn "rote" Gebäude entstanden, verwundert also nicht. Einen Sozialbau ausgerechnet auf den Namen eines Pioniers der Weltraumfahrt zu taufen, das verströmte dennoch eine gehörige Portion Optimismus.
Doch wie in so vielen in der Pariser Peripherie errichteten Wohnsiedlungen nahmen auch dort über die Jahre hinweg die Probleme überhand. Nicht zuletzt davon erzählen Fanny Liatard und Jérémy Trouilh in ihrem Langfilmdebüt "Gagarin – Einmal schwerelos und zurück". Den geschilderten Problemen begegnen sie jedoch nicht mit einem fatalistischen Gewaltszenario, sondern mit einer vom Magischen Realismus geprägten Geschichte, die dem utopischen Grundgedanken des Wohnprojekts treu bleibt.
Magisch realistische Weltflucht
Die sozialen Spannungen in urbanen Randbezirken nahmen im französischen Kino der vergangenen 30 Jahre wiederholt einen hohen Stellenwert ein. Das stilbildende Drama "Hass" (1995) von Regisseur Mathieu Kassovitz kommt einem ebenso in den Sinn wie dessen jüngste Epigonen "Girlhood" (2014) von Céline Sciamma, "Divines" (2016) von Houda Benyamina, "Die Wütenden - Les Misérables" (2019) von Ladj Ly, "BAC Nord" (2020) von Cédric Jimenez und "Athena" (2022) von Romain Gavras. Egal ob es sich dabei um knallharte Actionthriller, mitreißende Coming-of-Age-Storys oder bewegende Sozialdramen handelt, was all diese Filme verbindet, ist die zentrale Rolle, die der Gewalt bzw. Kriminalität in der Handlung zukommt. Das Regieduo Liatard und Trouilh packt die Probleme im Problembau ihres Films unterdessen erfrischend anders an.
Die zwei steigen mit Archivaufnahmen von der Eröffnung der Cité Gagarine ein, die aus heutiger Perspektive geradezu "surrealistisch" (O-Ton: Trouilh) anmuten. Denn auf den Schwarz-Weiß-Bildern ist in der dicht gedrängten Menschenmenge doch leibhaftig Juri Gagarin zu sehen, der eigens zur Einweihung angereist war. Das deutsche Kinopublikum reibt sich unterdessen noch eine Spur verwunderter die Augen, wenn es unter all den begeisterten Gesichtern auch Willy Brandt erblickt, der wohl in seiner Funktion als damaliger Regierender Bürgermeister von Berlin zugegen gewesen sein muss.
Diese traumhafte Qualität der eröffnenden Archivaufnahmen zieht sich als gestalterischer roter Faden durch den gesamten Film, der auf einem gleichnamigen Kurzfilm basiert. In der echten Cité Gagarine gedreht, die nicht nur in der Filmhandlung dem Abriss zum Opfer fällt, sondern zwischen 2019 und 2020 parallel zu den Dreharbeiten tatsächlich abgerissen wurde, dreht sich die Handlung um den 16-jährigen Youri (Alseni Bathily) und dessen unbändige Vorstellungskraft. Wie sein berühmter Namensvetter träumt auch der Jugendliche davon, einmal Astronaut zu werden. Und als er seinen Wohnort, der für das Regieduo zugleich Mutterleib und Raumschiff darstellt, mit seinem erfindungsreichen Pragmatismus nicht mehr retten kann, da erfindet er sich kurzerhand eine eigene Welt. Er verzieht sich in den hintersten Winkel des Wohnblocks und verwandelt diesen in eine kleine Raumstation, mit der er Welt endgültig entfliehen will.
Sozialen Spannungen mit Solidarität begegnen
"Gagarin – Einmal schwerelos und zurück" ist schon ein paar Jahre alt. In Frankreich kam der Film im Juni 2021 in die Kinos. In Deutschland war er bislang nur bei Filmfestivals zu sehen. Wenn er im August 2024 nun bundesweit startet, haben die Karrieren einiger junger Hauptdarsteller in der Zwischenzeit bereits ordentlich Fahrt aufgenommen. Während Alseni Bathily, der als Youri sein Filmdebüt gab und die Rolle mit Bravour meistert, seither nur noch in Kurzfilmen auftrat, zählen Finnegan Oldfield und Lyna Khoudri, deren Karrieren bereits vor "Gagarin" begannen, längst zu den großen Versprechen des französischen Kinos.
Vor allem Letztgenannte spielt sich mir ihren Rollen in Filmen wie "The French Dispatch" (2020), "Haute Couture - Die Schönheit der Geste" (2020), "November" (2022) und den neuen Dumas-Adaptionen "Die drei Musketiere - D'Artagnan" und "Die drei Musketiere – Milady" (beide 2023) langsam, aber sicher in Frankreichs erste Schauspielliga. Sie nun noch einmal in einer ihrer frühen Rollen auf der großen Leinwand sehen zu können – auch das mutet surreal an.
Auch wenn dieses Langfilmdebüt nicht durchweg rundläuft, die Laufzeit beispielsweise viel zu lang und die Handlung dadurch voller vermeidbarer Längen ist, es macht auch vieles richtig. Allein schon die Tatsache, die Probleme in einem sozialen Brennpunkt einmal nicht klischiert auf die Spitze zu treiben und in eine Eskalationsspirale münden zu lassen, ist Gold wert. Dem Fatalismus der adoleszenten Möchtegerngangster, die vor dem Eingang zum Wohnblock herumlungern, setzen Liatard und Trouilh in Form ihres Protagonisten kreative Problemlösungen, positive Energie und Solidarität mit den Mitbewohnern entgegen.
Fazit: Das Langfilmdebüt von Fanny Liatard und Jérémy Trouilh ist schon ein paar Jahre alt, kommt nun aber endlich auch in die deutschen Kinos. Das Regieduo erzählt von einem sozialen Brennpunkt, was an sich nichts Neues ist, tut dies aber auf ungewohnte Weise. Im Zentrum ihrer Coming-of-Age-Story steht ein jugendlicher Träumer, dessen Träume irgendwann auf die Wirklichkeit übergreifen. Was "Gagarin" zu einem vom Magischen Realismus angehauchten Sozialdrama macht.
Vorsicht Verwechslungsgefahr! Bei diesem Film handelt es sich nicht um das russische Biopic aus dem Jahr 2013 über das Leben des berühmten Kosmonauten. Auch kommt Juri Gagarin (1934–1968) in diesem Film nur ganz kurz bei der Einweihung der Cité Gagarine vermittels Archivaufnahmen vor. Es ist eben jener gigantische rote Wohnblock vor den Toren von Paris, der dieser Mischung aus Coming-of-Age- und Sozialdrama seinen Namen gibt.
Die Errichtung der Cité Gagarine, die 1963 eingeweiht wurde, war als Antwort auf eine lang andauernde Wohnungskrise in und um Paris gedacht. Viele der an die Hauptstadt angrenzenden Städte waren damals kommunistisch regiert. Dass in diesem "roten Gürtel", der Frankreichs Kapitale umschloss, in doppeltem Sinn "rote" Gebäude entstanden, verwundert also nicht. Einen Sozialbau ausgerechnet auf den Namen eines Pioniers der Weltraumfahrt zu taufen, das verströmte dennoch eine gehörige Portion Optimismus.
Doch wie in so vielen in der Pariser Peripherie errichteten Wohnsiedlungen nahmen auch dort über die Jahre hinweg die Probleme überhand. Nicht zuletzt davon erzählen Fanny Liatard und Jérémy Trouilh in ihrem Langfilmdebüt "Gagarin – Einmal schwerelos und zurück". Den geschilderten Problemen begegnen sie jedoch nicht mit einem fatalistischen Gewaltszenario, sondern mit einer vom Magischen Realismus geprägten Geschichte, die dem utopischen Grundgedanken des Wohnprojekts treu bleibt.
Magisch realistische Weltflucht
Die sozialen Spannungen in urbanen Randbezirken nahmen im französischen Kino der vergangenen 30 Jahre wiederholt einen hohen Stellenwert ein. Das stilbildende Drama "Hass" (1995) von Regisseur Mathieu Kassovitz kommt einem ebenso in den Sinn wie dessen jüngste Epigonen "Girlhood" (2014) von Céline Sciamma, "Divines" (2016) von Houda Benyamina, "Die Wütenden - Les Misérables" (2019) von Ladj Ly, "BAC Nord" (2020) von Cédric Jimenez und "Athena" (2022) von Romain Gavras. Egal ob es sich dabei um knallharte Actionthriller, mitreißende Coming-of-Age-Storys oder bewegende Sozialdramen handelt, was all diese Filme verbindet, ist die zentrale Rolle, die der Gewalt bzw. Kriminalität in der Handlung zukommt. Das Regieduo Liatard und Trouilh packt die Probleme im Problembau ihres Films unterdessen erfrischend anders an.
Die zwei steigen mit Archivaufnahmen von der Eröffnung der Cité Gagarine ein, die aus heutiger Perspektive geradezu "surrealistisch" (O-Ton: Trouilh) anmuten. Denn auf den Schwarz-Weiß-Bildern ist in der dicht gedrängten Menschenmenge doch leibhaftig Juri Gagarin zu sehen, der eigens zur Einweihung angereist war. Das deutsche Kinopublikum reibt sich unterdessen noch eine Spur verwunderter die Augen, wenn es unter all den begeisterten Gesichtern auch Willy Brandt erblickt, der wohl in seiner Funktion als damaliger Regierender Bürgermeister von Berlin zugegen gewesen sein muss.
Diese traumhafte Qualität der eröffnenden Archivaufnahmen zieht sich als gestalterischer roter Faden durch den gesamten Film, der auf einem gleichnamigen Kurzfilm basiert. In der echten Cité Gagarine gedreht, die nicht nur in der Filmhandlung dem Abriss zum Opfer fällt, sondern zwischen 2019 und 2020 parallel zu den Dreharbeiten tatsächlich abgerissen wurde, dreht sich die Handlung um den 16-jährigen Youri (Alseni Bathily) und dessen unbändige Vorstellungskraft. Wie sein berühmter Namensvetter träumt auch der Jugendliche davon, einmal Astronaut zu werden. Und als er seinen Wohnort, der für das Regieduo zugleich Mutterleib und Raumschiff darstellt, mit seinem erfindungsreichen Pragmatismus nicht mehr retten kann, da erfindet er sich kurzerhand eine eigene Welt. Er verzieht sich in den hintersten Winkel des Wohnblocks und verwandelt diesen in eine kleine Raumstation, mit der er Welt endgültig entfliehen will.
Sozialen Spannungen mit Solidarität begegnen
"Gagarin – Einmal schwerelos und zurück" ist schon ein paar Jahre alt. In Frankreich kam der Film im Juni 2021 in die Kinos. In Deutschland war er bislang nur bei Filmfestivals zu sehen. Wenn er im August 2024 nun bundesweit startet, haben die Karrieren einiger junger Hauptdarsteller in der Zwischenzeit bereits ordentlich Fahrt aufgenommen. Während Alseni Bathily, der als Youri sein Filmdebüt gab und die Rolle mit Bravour meistert, seither nur noch in Kurzfilmen auftrat, zählen Finnegan Oldfield und Lyna Khoudri, deren Karrieren bereits vor "Gagarin" begannen, längst zu den großen Versprechen des französischen Kinos.
Vor allem Letztgenannte spielt sich mir ihren Rollen in Filmen wie "The French Dispatch" (2020), "Haute Couture - Die Schönheit der Geste" (2020), "November" (2022) und den neuen Dumas-Adaptionen "Die drei Musketiere - D'Artagnan" und "Die drei Musketiere – Milady" (beide 2023) langsam, aber sicher in Frankreichs erste Schauspielliga. Sie nun noch einmal in einer ihrer frühen Rollen auf der großen Leinwand sehen zu können – auch das mutet surreal an.
Auch wenn dieses Langfilmdebüt nicht durchweg rundläuft, die Laufzeit beispielsweise viel zu lang und die Handlung dadurch voller vermeidbarer Längen ist, es macht auch vieles richtig. Allein schon die Tatsache, die Probleme in einem sozialen Brennpunkt einmal nicht klischiert auf die Spitze zu treiben und in eine Eskalationsspirale münden zu lassen, ist Gold wert. Dem Fatalismus der adoleszenten Möchtegerngangster, die vor dem Eingang zum Wohnblock herumlungern, setzen Liatard und Trouilh in Form ihres Protagonisten kreative Problemlösungen, positive Energie und Solidarität mit den Mitbewohnern entgegen.
Fazit: Das Langfilmdebüt von Fanny Liatard und Jérémy Trouilh ist schon ein paar Jahre alt, kommt nun aber endlich auch in die deutschen Kinos. Das Regieduo erzählt von einem sozialen Brennpunkt, was an sich nichts Neues ist, tut dies aber auf ungewohnte Weise. Im Zentrum ihrer Coming-of-Age-Story steht ein jugendlicher Träumer, dessen Träume irgendwann auf die Wirklichkeit übergreifen. Was "Gagarin" zu einem vom Magischen Realismus angehauchten Sozialdrama macht.
Falk Straub
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Besetzung & Crew von "Gagarin - Einmal schwerelos und zurück"
Land: FrankreichJahr: 2020
Genre: Drama, Fantasy
Originaltitel: Gagarine
Länge: 95 Minuten
Kinostart: 15.08.2024
Regie: Fanny Liatard, Jérémy Trouilh
Darsteller: Alseni Bathily als Youri, Lyna Khoudri als Diana, Jamil McCraven als Houssam, Finnegan Oldfield als Dali, Farida Rahouadj als Fari
Kamera: Victor Seguin
Verleih: Film Kino Text