FBW-Bewertung: Baldiga: Entsichertes Herz (2024)
Prädikat besonders wertvoll
Jurybegründung: ?Ich bin an Menschen interessiert, die am Rande der Gesellschaft stehen ? und ihre Mitte gefunden haben?, hatte Jürgen Baldiga einst in einem seiner 40 Tagebücher vermerkt und dieser Satz umreißt ziemlich gut das, was Baldiga selbst gelebt hat. 1979, mit 20 Jahren, zog er aus Essen nach Berlin. Hier konnte er seine Homosexualität leben und das tat er auch. Leben, so zeigt Markus Steins Film, bedeutete für Jürgen Baldiga: Keine halben Sachen, sondern das Leben in all seinen Facetten zu erleben, denn wenn Jürgen Baldiga über etwas verfügte, dann war es Selbstbewusstsein.Zunächst aber ist BALDIGA ? ENTSICHERTES HERZ ein erstklassiger Dokumentarfilm über die Anfänge der Schwulenbewegung in Deutschland. Homophobie, Stigmatisierung und Anfeindung waren erheblich stärker zu verspüren als heute. West-Berlin kristallisierte sich zunehmend als Anziehungspunkt für die gesamte LGBTQ+ Bewegung heraus. In diese Welt tauchte Baldiga ein. Er machte keinen Hehl aus seinem Vergnügen an Sexualität und seiner Ablehnung bürgerlicher, moralischer Vorstellungen des Zusammenlebens. Markus Steins BALDIGA ? ENTSICHERTES HERZ bebildert all das mit den Schwarz-Weiß-Fotografien Jürgen Balidgas. Großartige Bilder des Self-made-Fotografen, grob-körnige Aufnahmen, mit denen Baldiga vor allem posthum große Bekanntheit erlangte. Schonungslos, offen, und herausfordernd: Porträts nicht nur der schwulen Szene, sondern vom Rand der Gesellschaft.
Aber, und das zeigt Steins Doku deutlich, Jürgen Baldiga war kein Voyeur mit Kamera. Was er fotografierte, das lebte er auch. Genauso provokativ, wie triebgesteuert bewegte er sich im Milieu. ?Kunst und Ficken ist mein Leben?, schreibt er in eines seiner Tagebücher. Was Cis-Sexuelle und Bollerheten dachten, scherte ihn nicht nur nicht, es scheint ihm sogar Anreiz zur Selbstdarstellung gewesen zu sein.
Vor allem hat die Jury die rhetorische Kraft des Films überzeugt. Markus Stein taucht ein, in ein schwules Berlin und mehr noch, ein Lebensgefühl ? schwul oder nicht ?, das es so nicht mehr gibt. BALDIGA ? ENTSICHERTES HERZ berichtet aus einer anderen, einer vergangenen Welt. Dramaturgisch ist BALDIGA ? ENTSICHERTES HERZ toll gemacht. Stein schafft es, das Vibrieren, den Takt der Zeit perfekt einzufangen. Sein Film ist treibend, wo es notwendig ist, weiß aber auch innezuhalten, wenn es auf Nuancen ankommt. Mit eingeblendeten Einträgen aus Jürgen Baldigas Tagebuch gibt Stein seinem Film Struktur. Dabei ist er mutig genug, poetische oder auch verstörende Momente solange stehen zu lassen, dass sie ihre Wirkung entfalten können. Das ist sensibel und auch bei Dokumentarfilmen leider kein Standard.
Jürgen Baldiga ist zum Chronisten des schwulen Berlins während der AIDS-Hysterie geworden. In einer Zeit, in der Medien über die Krankheit noch ganz offen als Homosexuellenseuche und Schwulenpest berichteten, hat auch er sich angesteckt. Aber auch mit Erkrankung ist er sich treu geblieben, niemals Opfer sein zu wollen. So, wie er zu seiner Sexualität gestanden hat, hat er sich auch der Krankheit gegenüber gezeigt: mutig, offen und ehrlich. Anstatt sich zu verstecken hat er sich erneut gegen gesellschaftliche Strömungen gestellt. Er hat seine Erkrankung bewusst in die Öffentlichkeit getragen, auch wenn es ihn sehr viel Kraft gekostet haben muss. Markus Steins Film macht Mut, Bedrohungen ehrlich gegenüberzutreten und Minderheiten Raum zur Entfaltung zu lassen, wendet sich deshalb aber nicht explizit an ein jüngeres Publikum.
In der Diskussion hat sich gezeigt, dass BALDIGA ? ENTSICHERTES HERZ die Jury ergriffen hat. Besser lassen sich Neugier und unbändiger Lebenswille eines Menschen wohl kaum abbilden. Aus 7000 Tagebuchseiten, privaten Video- und Super-8-Aufnahmen, aus Interviews mit Zeitzeugen, mit Baldigas Bekannten und Weggefährten hat Markus Stein einen so fesselnden Dokumentarfilm gemacht, dass ihm die Jury genauso gerne, wie einstimmig das Prädikat BESONDERS WERTVOLL verliehen hat.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)