FBW-Bewertung: Das kostbarste aller Güter (2024)
Prädikat besonders wertvoll
Jurybegründung: Die FBW-Jury hat dem Film das Prädikat besonders wertvoll verliehen.Oscar-Preisträger Michel Hazanavicius begibt sich auf das Terrain der Graphic Novel, um im Stil des Märchens eine Geschichte über die Verbrechen im Holocaust zu erzählen. Dabei entsteht sowohl auf der Bild- als auch auf der Textebene ein großartiges Filmkunstwerk, das klug in seiner Ausgewogenheit förmlich auffaltet, dass Menschen einander furchtbare Grausamkeiten, aber auch unzerstörbare Liebe angedeihen lassen können.
Die Geschichte um ?das kostbarste aller Güter? beginnt wie ein klassisches Märchen: ?Es war einmal ein armer Holzfäller, der lebte mit seiner Frau in einer kleinen Hütte im Wald??, wir lauschen noch einmal der warmen, weichen Stimme des unvergessenen Jean-Louis Trintignant, der als Erzähler fungiert und damit zum großen Hörerlebnis beiträgt. Bereits im ersten Bild werden wir in das Setting eines Perrault?schen Märchen gezogen, von denen die meisten sehr dramatische und oft auch traurige, düstere Begebenheiten erzählen. Dann wechselt das Bild. Wir betreten in einem tief verschneiten Wald das Holzhäuschen dieser armen Leute, ohne dass eine konkrete Verortung stattfindet. Das betagte Ehepaar hat sich abgefunden mit der harten Lebensrealität in einer Kriegszeit, ohne Kinder, die sich kümmern und ohne die Liebe und Fürsorge, die Eltern geben könnten. Einzig die Frau betet, auch ohne Verankerung in einer bestimmten Religion, zu den Göttern, sie mögen aus den Güterzügen, die mehrfach am Tag durch den Wald fahren, eine Ware werfen, die das Leben erträglicher macht und ihr Elend beendet. Eines Tages fällt aus einem der Züge ein kleines Mädchen in den Schnee, gehüllt in ein fein gewebtes Tuch mit goldenen Fäden. Nach 80 Minuten hat sich ebenso fein wie dieses Tuch, das um den Säugling gewickelt wurde, eine mit filmischen Ideenfäden gewobene Geschichte entwickelt.
Die Jury lobt in der anschließenden Diskussion, die Höhe der künstlerischen Mittel in allen Gewerken dieses Films, derer sich Michel Hazanavicius mit seiner Crew so sicher bedienen. Zunächst wurde die atemberaubende zeichnerische Welt betrachtet. Im Zusammenwirken von Reduktion und bildgestalterischer Fülle wird auf Vorbilder wie Ari Folman zurückgegriffen und dennoch, in einem eigenen Stil, nur durch die animierten Bewegungen und die ausdrucksstarke Mimik, den eher in der Fläche agierenden Figuren förmlich zur Dreidimensionalität durch charakterliche Tiefe verholfen. Dabei braucht der Regisseur und Mitautor am Drehbuch, dem die literarische Vorlage von Jean-Claude Grumberg zugrunde liegt, nur sehr wenig gesprochenen Dialog. Entsprechend der einfachen Welt, in der die Figuren leben, werden die großen Fragen zwischen Leben und Tod verhandelt. Immer wieder nimmt der Film, nach stimmig eingesetzten Schwarzblenden, unerwartete Wendungen. Das hat die Jury sehr beeindruckt.
Die Jury lobt zudem die feine Dramaturgie, die die Tonalität des Märchens in seiner ganzen Ernsthaftigkeit bis zum berührenden Ende nie verlässt und mit neuen Figuren, die hinzukommen, überzeugend Höhepunkte und Wendungen kreiert. Obwohl die Filme zum Holocaust so unzählig sind und man glaubt, alles dazu schon gesehen zu haben, findet hier ein Filmteam eine neue Erzählform, die überwältigt ohne im falschen Überwältigungsmodus zu agieren, den Zuschauenden mitnimmt auf dem Weg der ?kleinen Ware?, deren ganze Geschichte erst nach und nach enthüllt wird. Die Jury diskutiert den Einsatz der Musik vom ebenfalls Oscar gekrönten Filmkomponisten Alexandre Desplat als sehr gelungen und merkt nur ganz wenige Momente überhöht verstärkter Dramatik an. Dabei sind die jiddischen Kinderlieder im Dienst des zu Erzählenden stimmig eingesetzt. Die Bildmontage von Laurent Pelé-Piovani verwebt beide Erzählebenen elegant gekonnt. Ebenfalls als sehr gelungen betrachtet die Jury, dass ganz nebenbei, ohne dass der Film es besonders thematisiert, die Geschichte einer mutigen Frau erzählt wird, die in einer Zeit, in der Männer die Welt verheeren, das Leben eines fremden Kindes mit ihrem eigenen schützt und verteidigt.
Dieser besondere Film mit hoffnungsvollem Grundton und großer atmosphärischer Dichte bietet einen französischen Blick auf die europäische Dimension der Verbrechen im Nationalsozialismus und erzählt in hoher Aktualität von Faschismus und Menschenhass. Man verzeiht ihm das eine oder andere Sentiment. Der Facettenreichtum des Films ermöglicht es, so befindet die Jury, der Geschichte der Kindwerdung, die sehr ausführlich erzählt wird, ebenso folgen zu können, wie dem Schicksal der jüdischen Familie im Konzentrationslager. Damit gelingt dem Film die Weitung der Perspektive von einem individuellen Leid zu einem gesellschaftlichen Versagen.
Die Jury diskutiert das Filmende, das zu einem erforderlichen Schluss führt und der Erzähltradition der Märchen eine moderne Facette hinzufügt. Damit lässt uns der Film als Zuschauende nicht allein. Das Stilmittel der Graphic Novel, darauf verweist die Jury im Besonderen, kann das Thema des Holocaust sehr gut für die jüngere Generation aufschließen und stellt die entscheidenden Fragen nach Courage, Wahrhaftigkeit und Mitmenschlichkeit ohne seine Absicht moralisierend auszustellen. Das Schlussplädoyer gehört dem Erzähler. Die Jury empfiehlt, DAS KOSTBARSTE ALLER GÜTER im Original zu zeigen, was auf Grund der wenigen Dialoge sehr gut funktioniert und den Filmgenuss erhöht.
Mit großer Freude vergibt die Jury das Prädikat besonders wertvoll und wünscht diesem Film ein weltweit aufmerksames, berührtes Publikum.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)