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FBW-Bewertung: Memory (2024)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: MEMORY ? der Titel Michel Francos Film ist auf Deutsch ausnahmsweise sogar vielsagender und vor allem -schichtiger, als im Englischen. Neben der Übersetzung, als ?Erinnerung?, gibt es im deutschen Sprachraum auch das Spiel MEMORY, bei dem Karten aufgedeckt werden müssen, in der Absicht, kongruente Pärchen zu entdecken.

Erinnerung ist natürlich das Motiv in Michel Francos Film. Sylvia, die Protagonistin in Michel Francos ?Memory?, ist alleinerziehende Mutter. 13 Jahre ist sie schon trocken, erzählt sie in einem AA-Meeting gleich zu Beginn des Films. Das aber erklärt nicht, warum sie ihre 15-jährige Tochter von allen Erfahrungen fernhalten will, die ein Teeny heutzutage erleben kann. Etwas Mysteriöses umgibt Sylvia und dieser Eindruck verstärkt sich, als sie auf einem Klassentreffen von Saul, einem der Teilnehmer verfolgt wird. Sie meint, in ihm einen ihrer Vergewaltiger aus der Schulzeit wiederzuerkennen, aber Saul kann sich nicht erinnern.

Zwei große Themen behandelt MEMORY: Zum einen Missbrauch und seine Folgen, zum anderen Demenz. Denn Sylvias vermeintlicher Peiniger von früher ist dement. Er lebt, abgeschieden vom realen Leben, bei seinem Sohn, während sich Sylvia, vor dem Hintergrund des Missbrauchs, selber isoliert. Und abermals spielt die Zerbrechlichkeit von Erinnerung eine Rolle, denn niemand aus Sylvias Familie hat ihrem Missbrauchsvorwurf jemals Glauben schenken wollen, so dass sich Sylvia zunehmend von ihrer Familie distanziert hat. Und vielleicht liegt gerade in den Widrigkeiten ihres Lebens der Grund, warum sich Sylvia und Saul annähern. Francos Film gleicht einem Theaterstück. In sich abgeschlossene Kapitel, die dem Publikum gerade einmal so viel verraten, dass sich das Gefühl der Beunruhigung nicht legen will.

MEMORY ist eine äußerst sensible Liebesgeschichte und auch Drama. Ein Film über Menschen, die sich gesellschaftlich nicht integrieren können. Die geglückte Umsetzung des anspruchsvollen Skripts ist fraglos auch den fantastischen Darsteller geschuldet. Jessica Chastain spielt Sylvia in so großer, authentischer Widersprüchlichkeit, dass sich das Publikum unweigerlich dazu aufgerufen fühlt, nach dem Grund ihres Traumas zu suchen. Durch sie wird Sylvia zu einem genauso verletzlichen, wie rauen, kratzbürstigen Menschen, zu einem Charakter, der sich schützend vor andere stellt und aufgrund seiner Vergangenheit, oftmals nicht anders auszudrücken weiß, als durch herbe Provokationen. Saul hingegen erscheint in Peter Sarsgaards Darstellung beinahe philanthropisch. Auch sein Charakter ist verwundbar. Die Erkrankung hat ihn mit so viel kindlicher Neugier, und schier grenzenloser Empathie versehen, dass er manchmal daran zu zerbrechen droht. Sylvia und Saul sind wie Yin und Yang. In all ihren Eigenheiten korrelieren sie, scheinen zusammen zu gehören. Tatsächlich ist Francos Drehbuch reich an psychologischen Nuancen. Nach und nach gibt es den Blick frei, auf immer neue Erinnerungen, auf Traumata und Enthüllungen und zunehmend auch auf gegenseitige Annäherung. Letztlich erzählt Franco Sylvias Geschichte. 103 Minuten lang begleitet er seine Protagonistin. Niemals verrät er sie. Auch wenn es hin und wieder so scheint, als wenn ihre Sicht auf ihre Umwelt mitunter nicht der Wahrheit entsprechen kann, lässt er nicht zu, dass das Publikum Sylvias Sicht völlig in Frage stellen kann.

Dabei ist MEMORY von ganz eigener, auch visueller Eleganz. Francos Film wirkt wie aus einem Guss. Tatsächlich zeichnet Franco für Regie, Buch und auch Schnitt verantwortlich. Und auch die Kamera folgt dem Konzept des Films. Bis auf wenige introduzierende Großaufnahmen zu Beginn, beschränkt sich Francos Leib-und Magen-Kameramann Yves Cape maximal auf Halbtotalen, die das Publikum Sylvia und Saul niemals zu nahe kommen lässt. MEMORY nimmt sich Zeit und Raum für die Gefühle seiner Protagonisten, traut sich, psychische Erkrankungen Ernst zunehmen, verliert sich aber nicht in Rührseligkeit. Dramaturgisch geschickt ist MEMORY von Anfang an unterschwellig so spannend angelegt, dass die Jury keine Sekunde hätte versäumen wollen. In der Tat hat die Jury selten ein an sich sperriges Thema mit so viel Eleganz, bildlicher Ästhetik und Dramaturgie so überzeugend für die Leinwand inszeniert gesehen. MEMORY ist ganz großes Kino, dem die Jury einstimmig ein Prädikat BESONDERS WERTVOLL verliehen hat.



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