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FBW-Bewertung: Sterben (2024)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Matthias Glasner ist bekannt für seine vieldiskutierten Filme wie etwa DER FREIE WILLE. Sein neues Familiendrama STERBEN knüpft in mancherlei Hinsicht an den tabubrechenden Duktus seines frühen Films an ? und ist doch ganz anders. Der Film hatte seine viel beachtete Premiere beim Berlinale Filmfestival und bietet ein namhaftes Ensemble auf: Corinna Harfouch, Lars Eidinger, Lilith Stangenberg, Robert Gwisdek und Ronald Zehrfeld.
STERBEN ist in mehrere Kapitel unterteilt, die jeweils mit Fingerfarben an die Wand gemalt wurden und sich inhaltlich immer wieder überschneiden. Es beginnt mit Lissy Lunies (Harfouch). Die Mutter der Familie ist Mitte 70 und genießt ihre Freiheit, seitdem ihr demenzkranker Mann Gerd (Hans-Uwe Bauer) in einer Pflegeeinrichtung lebt. Doch auch sie hat mit einer Krebserkrankung und Diabetes zu kämpfen. Wir erleben ihre Versuche, die beiden Kinder zu motivieren, den Vater zu besuchen, der bald darauf stirbt.
Lissys Sohn Tom (Eidinger) ist Dirigent eines Jugendorchesters. Mit seinem Freund Bernard bereitet er eine neue epische Komposition namens ?Sterben? vor, die sich in verschiedenen Varianten leitmotivisch durch den Film zieht und dessen Konzept reflektiert. Bernard (Robert Gwisdek) selbst ist depressiv, was später zu einer radikalen Entscheidung führen wird. Toms Ex-Freundin Liv (Anna Bederke) nutzt Tom als Ersatzvater für ihr Kind mit einem anderen Mann.
Toms emotional labile Schwester Ellen (Stangenberg) hat eine Affäre mit dem verheirateten Zahnarzt, mit dem sie eine Vorliebe für Alkohol teilt. Doch die kurzzeitige Stabilität, die ihr diese Beziehung gibt, droht immer wieder zusammenzubrechen.
Die späteren Kapitel führen die Handlungsstränge zusammen. In ?Der schmale Grat? geht es um das wahre Wesen des Kunstwerkes, und ?Die Liebe? führt die ?Überlebenden? kurzzeitig zusammen. Gewidmet hat Glasner den Film seiner Familie, ?den Lebenden und den Toten?.
Der mit einer Laufzeit von drei Stunden herausfordernde Film STERBEN ist ein schwarzhumoriges Werk über die latente Todessehnsucht der postmodernen Gesellschaft. Er zeichnet ein Kaleidoskop toxischer Familienstrukturen, emotionaler Kälte und Beziehungsunfähigkeit. Und er stellt die Überlegung in den Raum, ob die Kunst, so ihre wirkliche Erfüllung nur im Tod des Künstlers finden kann. Eine Szene zwischen Tom (Eidinger) und Bernard (Gwisdek), die sich mit diesem Thema beschäftigt, gehört zu den verstörendsten und stärksten des Films. Als Höhepunkt folgt die finale Version des Konzertes, in dem alle Emotionen zusammenfließen.
Das Schauspielerensemble des Films brilliert in den für die einzelnen Akteure und Akteurinnen zweifellos vertrauten Bereichen. Dabei fließen naturalistisch, psychologisch nuancierte Momenten mit nahezu Brecht?schen Verfremdungseffekten ineinander. Der Film bietet ein Wechselbad der Emotionen zwischen Trauer, Komik und Tragik. Dabei wird nicht nur mit der zyklischen Wiederkehr von Leitmotiven gearbeitet, sondern auch mit sorgsam platzierten Kontrapunkten. Es ist nicht zufällig, dass der Film nicht nur mit dem Handyvideo eines Kindes beginnt und einer Geburtsszene relativ zu Beginn das Titelthema kontert. Allerdings finden solche Motive ihre Reflexion in der Musik ? etwa als der Kinderchor erst etabliert und dann wieder gelöscht wird. Dennoch bleibt der Eindruck: Im Sterben liegt auch eine Neugeburt. Der Kreislauf des Lebens selbst strukturiert die Akte des Films.
Nicht nur das tabuisierte Motiv des Sterbens wird zum Hauptthema des Films, sondern auch andere tabubelastete Bereiche werden mitunter erstaunlich explizit behandelt: Das Phänomen des ?regretting partenhood? (?Ich habe Dich nie geliebt?) etwa, die Dämonen des depressiven Künstlers, die Exponierung von Krankheiten und körperlichem Verfall. Es wird deutlich, dass Traumata nie aufgearbeitet, sondern meist an die nächste Generation weitergegeben werden.
Die Jury hat den Film umfassend und detailliert diskutiert. Die Länge wurde unterschiedlich empfunden, doch das komplexe Sujet rechtfertigt für die Jury letztlich den Umfang. STERBEN erscheint als sehr zeitgemäßer Film, der die aktuellen Probleme in einem Ensemble mit komplex ausgearbeiteten Charakteren pointiert. Er kann als Plädoyer für Offenheit und als Einladung zur Selbstreflexion gesehen werden, eigenen Familienstrukturen nachzuspüren. Die multiperspektivische Wiederholung derselben Momente funktioniert außergewöhnlich gut als verbindendes Element zwischen den Kapiteln.
Die Jury vergibt für STERBEN sehr gerne das höchste Prädikat BESONDERS WERTVOLL.






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