FBW-Bewertung: Führer und Verführer (2023)
Prädikat besonders wertvoll
Jurybegründung: Das Sprichwort ?Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer? hat aktuell, in einer Zeit, in der ein Krieg in Europa und Nahost herrscht und Extremismus und identitäre Bewegungen auf dem Vormarsch sind, eine besonders bittere Note. Doch auch wenn das Thema sicher nicht bequem und die eigene Reflexionsarbeit mühsam ist, führt kein Weg daran vorbei. Insbesondere nicht in Deutschland. So ist es sicher kein Zufall, dass gerade jetzt sich Joachim A. Lang in seinem neuen Film dem Chefdemagogen Hitlers, dem NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, zuwendet und genau hinblickt. Schon in den einleitenden Tafeln wird unmissverständlich klar gemacht, es geht um das Demaskieren der Manipulation, der Analyse von Hetze und Verführung, um Methoden der Falschinformation und des Populismus ? von denen wir heute immer noch und wieder betroffen sind ? bloß zu stellen.Das erste Beispiel schlägt bereits ein wie eine Bombe: ein kaum bekanntes Ton-Dokument, in dem ein ganz unbekannter Hitler spricht, zweifelnde Worte, nachdenklicher Tonfall, keine überschlagende Stimme. Mit diesem einen Beispiel zeigt FÜHRER UND VERFÜHRER auf: Es gibt einen Mann vor den Kameras und Mikrophonen und einen dahinter. Einen, der für die Inszenierung und das Portionieren der (Fehl-)Informationen sorgt.
In einer klugen Mischung aus Spielszenen auf Kinoniveau und Archivaufnahmen, gespickt mit Zitaten aus Tagebüchern und Zeugenaussagen, nimmt sich Lang nun diesen Mann vor. Bis zum Schluss schafft es der Film, insbesondere durch die ungewöhnliche aber meisterhafte Besetzung Robert Stadlobers als Goebbels, Interesse für diesen Mann zu haben, aber kein Mitgefühl zu empfinden. Noch nicht mal, als Goebbels zusammen mit seiner Frau die sechs Kinder ermordet und sich danach selbst tötet. Die Ideologie kennt keine moralischen oder familiären Grenzen, der Machthunger keine Unschuldigen.
Dabei gibt es viel zu entdecken, auch bei einer der bekanntesten Figuren aus Hitlers Machtapparat. Beispielsweise die Dynamik zwischen Hitler und Goebbels, die Durchdringung von politischer sowie kriegerischer Strategie und Kommunikationskniffen. Aufmärsche und propagandistische Filme, gestellte Fotos und das Instrumentalisieren (und die Kooperation) der Kultur, das alles ist bekannt. Aber wie weit die Einflussnahme Goebbels, der sich zum zweiten Mann hinter Hitler hocharbeitete, ging, zeigen Aktionen wie diese: Als der Zweifrontenkrieg in Stalingrad vor dem Aus steht und die Kriegsmüdigkeit in Deutschland ihren Gipfel erreicht, organisiert Goebbels Sammlungen von Winterkleidung und Skiern. Weniger, um den Soldaten an der Front zu helfen, als vielmehr der Bevölkerung das Gefühl zu gehen, etwas tun zu können. Dieses perfide Appellieren an den menschlichen Instinkt beherrschte Goebbels wie kein anderer und das machte ihn so gefährlich. Der Film fokussiert sich hier klugerweise auf das perfide ?Alltagsgeschäft? und lässt dafür historische Ereignisse wie beispielsweise die Wannsee-Konferenz aus.
Immer wenn FÜHRER UND VERFÜHRER droht, zu plakativ oder gar unglaubwürdig zu wirken ? was kein Wunder ist bei den haarsträubenden dargelegten Manipulationen! ? werden Aussagen von Zeitzeug:innen, wie Charlotte Knobloch oder Margot Friedländer dagegen gesetzt, um den Wahrheitsgehalt zu belegen und den Film ins Heute zu holen. Es ist passiert, und daher kann es wieder passieren.
Obwohl der Ausgang von Goebbels Geschichte bekannt ist, folgt man schockiert und gebannt dem Geschehen. Dies ist durch die filmische Gestaltung, insbesondere durch die Montage, die Übergänge zwischen den vielen Ebenen, die Gestaltung des Sounds, wie etwa die Wiederholung der Original-Dialoge im Anschluss an die gespielten Dialoge, sowie den zurückhaltende Einsatz von Musik sehr gelungen. Alles stellt sich in den Dienst, die Hetzer von damals und heute zu entlarven.
FÜHRER UND VERFÜHRER ist kein Bekehrungs-Film, aber es ist ein Film, der klug und fundiert informiert, um Protesthaltungen oder Indifferenzen aufzubrechen.
Die FBW-Jury vergibt einstimmig das höchste Prädikat BESONDERS WERTVOLL.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)