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FBW-Bewertung: Olfas Töchter (2023)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Der schlichte Dokumentarfilm von vor 20 Jahren existiert bestenfalls noch in einigen Sendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Tatsächlich subsumiert das Genre mittlerweile unzählige Spielformen. Spieleinlagen, Fiktionalisierungen und vieles mehr gehören fast schon so selbstverständlich mit dazu, dass die Grenzen zum Spielfilm manchmal zum Greifen nah scheinen.

OLFAS TÖCHTER führt die Gattung des Dokumentarfilms auf ein völlig neues Niveau. Das Publikum wird hier Zeuge, wenn in einer Art Laborsituation schmerzhafte Erinnerungen an zwei Töchter der namensgebenden Protagonistin erzeugt werden. Für den Film setzt die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania auf ein gewagtes Experiment. In einer Art Reenactment können die Zuschauer teilhaben, wenn Olfa mit ihren zwei verbliebenen Töchtern das Familienleben und die äußeren Umstände, die zum Verschwinden der ältesten Töchter führten, noch einmal durchleben. Engagierte Schauspielerinnen sollen dabei diese ältesten Töchter spielen und, wenn die Erinnerungen zu schmerzhaft sein sollten, auch Olfa selbst. Das mag kompliziert klingen, ist es aber allenfalls auf dem Papier.

In mehrfacher Hinsicht hat sich Hania an ein filmisches Experiment gewagt, und es mehr als geglückt abgeschlossen. Nach nur kurzer Zeit kann das Publikum Zeuge einer Verschmelzung von Schauspielern und realen Personen werden, wie sie so vermutlich noch nicht zu sehen war. Tatsächlich wachsen Olfa, deren verbliebene Töchter und die Schauspielerinnen auf der Leinwand ziemlich schnell zu einer kleinen Familie zusammen und lassen das Publikum erleben, was zum Verschwinden der beiden ältesten Töchter führte.

Das Interessante: Der Film zeigt auch, wie die Alleinerziehende Olfa unbewusst männlich-stereotypen Verhaltensweisen reproduziert und ihre Familie mit der patriarchalischen Strenge regiert, die sie selber in der tunesischen Gesellschaft erfahren hat. OLFAS TÖCHTER beschreibt die Protagonistin tatsächlich als widersprüchliche Figur. Kann die Jury anfangs noch Bewunderung für die starke Mutter empfinden, die für ihre Kinder kämpft, erscheint ihr Charakter im Laufe des Films zunehmend komplexer und beunruhigender. Olfa mag keinen Schleier tragen, gibt aber zu, dass sie sich nicht von ihren traditionellen Vorstellungen über das Frausein im muslimischen Umfeld befreien kann und auch, dass sie ihre Töchter bisweilen sogar geschlagen hat, wenn sie zu freizügige Kleidung getragen und Jungen angesprochen haben. Anstatt Olfa von Hass erfüllt erscheinen zu lassen, machen sie diese Enthüllungen zu einer noch überzeugenderen Figur.

Ihre Töchter indes lernen zunächst die Vorzüge weltlich-westlicher Freiheiten kennen, die die Revolution von 2010 in das Land brachte. Regisseurin Hania zeigt, wie sie zwischen Olfas tradierten Moralvorstellungen und den Verheißungen einer modernen Gesellschaft aufwachsen. Sie zeigt auch deren Selbstfindung in Abgrenzung zu Tradition und Moderne, die immer wieder durch extreme Reaktionen auf ihr Umfeld gekennzeichnet sind.

Wie eine Therapie führt der Film seine Protagonistinnen an schmerzhafte Orte. Und obwohl ihnen Hania dabei große Handlungsfreiheiten lässt, mäandert OLFAS TÖCHTER niemals vor sich hin. Im Gegenteil, was die Jury gesehen hat, waren von Anfang an spannende Einblicke in eine Familie, eine Gesellschaft und eine Story, die so noch nicht erzählt worden sind. Dramaturgisch ganz großartig schließt OLFAS TÖCHTER eine Welt auf, zu der die meisten westlichen Zuschauer*innen wohl nur wenig Kontakt haben, nur um zu zeigen, dass sich der Alltag der Protagonistinnen gar nicht so sehr von dem eigenen unterscheidet. Damit einhergehend zeigt Hanias Doku auch, wie fließend die Grenzen zwischen westlichen Idealen und fundamental-religiösen Vorstellungen sein können.

Filmisch bedeutet OLFAS TÖCHTER einen Riesengewinn für das Dokumentarformat. Durch vielschichtiges Erzählen und experimentelle Herangehensweise macht es Regisseurin Kaouther Ben Hania möglich, intrafamiliären Muster und gesellschaftliche Strömungen parallel zu betrachten und deren Wechselwirkung begreifbar zu machen. Dass dabei auch der Spaß und der Zusammenhalt innerhalb der Familien miterzählt wird, ist eine weitere Leistung der Dokumentation.

Nach Ansicht der Jury ist OLFAS TÖCHTER eine mutige Dokumentation, die neue Eckpunkte für das Format setzt. Ohne schwache Sequenz, ohne jede Durststrecke lässt der Film am Leben einer Familie teilhaben, die viel durchmachen musste. OLFAS TÖCHTER erklärt das Leben, so schrecklich und doch so schön, dass die Jury gar nicht anders kann, als einstimmig das Prädikat BESONDERS WERTVOLL zu vergeben.






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