Blue Jean (2023)
Dieses britische Drama, mit dem Regisseurin Georgia Oakley ihr Langfilmdebüt gibt, handelt von einer Lehrerin, die sich Ende der 1980er-Jahre entscheiden muss, welchen Weg sie einschlägt.Kritiker-Film-Bewertung:User-Film-Bewertung :
Filmsterne von 1 bis 5 dürfen vergeben werden, wobei 1 die schlechteste und 5 die beste mögliche Bewertung ist. Es haben insgesamt 1 Besucher eine Bewertung abgegeben.
Nordengland, 1988: Ein unter Margaret Thatcher verabschiedetes Gesetz, das "die Förderung von Homosexualität durch lokale Behörden" verbietet, stellt die Sportlehrerin Jean (Rosy McEwen) vor ein Problem. Dass sie lesbisch ist, hat sie an ihrer Schule ohnehin verschwiegen. Doch nun steht ihr Job auf dem Spiel, sollte es herauskommen. Und Jeans Beziehung zu Viv (Kerrie Hayes), die durch das andauernde Versteckspiel ohnehin schon auf die Probe gestellt ist, steht nun noch stärker auf der Kippe.
Als wären diese Sorgen nicht schon genug, zieht weiteres Ungemach in Form einer neuen Schülerin am Horizont auf. Auch Lois (Lucy Halliday), die frisch in das von Jean betreute Korbballteam kommt, ist lesbisch, geht damit aber viel selbstbewusster um als ihre Lehrerin. Als Lois von ihrer Mitschülerin, der eifersüchtigen Korbball-Kapitänin Siobhan (Lydia Page) eines Übergriffs bezichtigt wird, muss Jean sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht.
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Filmkritik
"Blue Jean": This Charming Woman
Ist dieses Drama wirklich so gut, wie es der eingesammelte Vorschusslorbeer vermuten lässt? (Bei Verleihungen war Georgia Oakleys erster langer Film bislang für zwei Dutzend Preise nominiert und hat die Hälfte davon mit nach Hause genommen; darunter allein vier von den British Independent Film Awards.) Die kurze Antwort: Ja! Selten war ein Debüt über alle Gewerke hinweg so formvollendet. Allein das ist erstaunlich. Der Debütantin, die zuvor bereits mehrere exquisite Kurzfilme realisiert hat, gelingt aber noch mehr. Was "Blue Jean" so außergewöhnlich macht, ist der erzählerische Fokus.
Blue Monday: Mikrokosmos Schule
Oakley, von der auch das Drehbuch stammt, erzählt von einer Zeit, die sie selbst nicht erlebt hat. Sie ist 1988 geboren, im Jahr, in dem die Handlung angesiedelt ist. Die Nachwehen hat sie jedoch indirekt am eigenen Leib erfahren, auch wenn sie sich dessen erst während der Vorbereitung auf "Blue Jean" bewusst geworden ist. Als sie zur Schule ging, war das homophobe Gesetz, um das es im Film geht, noch in Kraft. Was erklärt, warum es Oakleys gesamte Schulzeit über weder im Lehrkörper noch in der Schülerschaft queere Vorbilder gegeben habe, stellt die Regisseurin in einem Interview zum Film fest.
Vor der Folie dieser Repressalien richtet Oakley ihren Fokus auf die Sportlehrerin Jean; eine Frau, die sich buchstäblich nicht in den Vordergrund drängt. Wie Kameramann Victor Seguin diese zugleich unscheinbare und ungemein präsente Figur im Bildausschnitt positioniert, wie sein Arbeitsgerät sich ihr sanft annähert und sie aus einer Traube an Lehrern hervorhebt, wenn sich die Schlinge der neuen Gesetzgebung langsam zuzieht und ihr die Luft abschnürt, ist meisterhaft. Wie Rosy McEwen diese zerrissene Frau nicht nur spielt, sondern im wahrsten Sinne verkörpert, ist fantastisch. Dass die große, in London gemachte Politik im Drehbuch nur ein immer lauter werdendes Hintergrundrauschen bleibt und sich Oakley stattdessen darauf konzentriert, wie sich die Politik auf eine kleine Lehrerin in der nordenglischen Provinz auswirkt, ist die richtige Entscheidung. Und eine, die bis heute viel zu selten getroffen wird.
Should I Stay or Should I Go: Der Schmerz der Unentschlossenheit
Wie anders, um wie vieles lauter, zugespitzter, agitatorischer und pathetischer wäre dieser Stoff wohl in Hollywood erzählt worden? All das ist Oakley völlig fremd. Bei ihr geht niemand auf die Straße, fordert krakeelend seine Rechte ein oder bietet couragiert Autoritäten die Stirn. Oakleys Protagonistin ist ein Hasenfuß, der sich beim ersten Anzeichen eines Schattens wegduckt und zurück in seinen Bau verkriecht. Nichts könnte uns im Kinopublikum jedoch ferner liegen, als dieses Verhalten zu verurteilen. Denn die Regisseurin schwingt in ihrem Drama weder die Moralkeule noch den Holzhammer. Stattdessen zeichnet sie ein feinfühliges, einfühlsames Porträt, das nicht zuletzt darauf aufmerksam macht, dass nicht alle im Leben ein Rosa von Praunheim, ein Harvey Milk oder – um auf der britischen Insel zu bleiben – eine Angela Mason oder eine Maureen Colquhoun sein können.
Das Kino interessiert sich allzu oft nur für die wenigen großen Köpfe, die mutig vorneweg marschieren, und vergisst dabei die kleinen Leute, die von einer politischen Entscheidung wie der im Film behandelten überrollt werden. "Blue Jean" gibt ihnen eine Stimme, und die muss überhaupt nicht laut und wütend sein. Ganz im Gegenteil zieht dieses Drama gerade aus dem Zögern und Zaudern seiner Protagonistin seine Kraft. "Blue Jean" ist auch ein Film über den bittersüßen Schmerz der Unentschlossenheit.
Eine der besten Szenen hat sich Georgia Oakley für den Schluss aufgespart. Jean ist beim Kindergeburtstag ihres Neffen eingeladen und lässt die taktlosen Kommentare eines Gastes scheinbar regungslos über sich ergehen. Je mehr sich dieser um Kopf und Kragen redet, desto breiter wird jedoch Jeans unmerkliches Lächeln. Anstatt auf eloquenten Angriffsmodus zu schalten, zieht sich Jean mit einem der schönsten, lässigsten und leisesten Coming-outs der Filmgeschichte aus der peinlichen Affäre.
Friday I'm in Love: Flucht ins Wochenende
Diese lange gesuchte und endlich gefundene Akzeptanz der eigenen Situation und den daraus gewonnenen unbeschwerten Umgang damit nimmt Jean schließlich mit in die Schule. Bis es so weit ist, folgen wir ihr durch den Alltag. Der ist so perfekt ausgestattet, so grobkörnig fotografiert und so stimmungsvoll musikalisch unterlegt, dass sich "Blue Jean" nie wie nostalgisches 1980er-Reenactment ausnimmt, sondern so anfühlt, als sei der Film tatsächlich in diesem Jahrzehnt entstanden.
Wir joggen mit der Sportlehrerin durch den Nieselregen an der Küste entlang. Wir sehen ihr zu, wie sie an den Wochenenden im weit genug entfernten Newcastle im geschützten Habitat einer Kneipe voller Gleichgesinnter aufblüht; und wie sie diesen Rückzugsort durch ihre dort aufkreuzende Schülerin bedroht sieht. Wir werden Zeuge, wie Jean zwischen ihrem Berufs- und Privatleben zerrieben wird, wie sie eine fatale Entscheidung trifft und diese wiedergutzumachen versucht. Und lernen dabei etwas Entscheidendes über sie, nämlich dass, wenn sie auch selbst nicht mit ihrer Sexualität hausieren geht, sie andere unterstützen und ihnen einen alternativen, besseren Weg aufzeigen kann.
Jeans Fahrt zur Arbeit wird fortan eine andere sein und – nomen est omen – ist diese Jean Newman am Ende auch ein neuer Mensch.
Fazit: Mit "Blue Jean" legt die britische Drehbuchautorin und Regisseurin Georgia Oakley ein formvollendetes Debüt vor. Ihr Ende der 1980er-Jahre im englischen Norden angesiedelter Film ist ein feinfühliges Drama, das den Blick auf die kleinen Leute richtet. Großartig geschrieben, inszeniert und gespielt, kann man sich der Präsenz von Hauptdarstellerin Rosy McEwen und der von ihr verkörperten Titelfigur nicht entziehen. All ihrer Makel zum Trotz (oder vielleicht gerade deswegen) ist diese Jean Newman eine charismatische und charmante Frau, von der es nach wie vor zu wenige im Kino gibt. Bitte mehr davon!
Ist dieses Drama wirklich so gut, wie es der eingesammelte Vorschusslorbeer vermuten lässt? (Bei Verleihungen war Georgia Oakleys erster langer Film bislang für zwei Dutzend Preise nominiert und hat die Hälfte davon mit nach Hause genommen; darunter allein vier von den British Independent Film Awards.) Die kurze Antwort: Ja! Selten war ein Debüt über alle Gewerke hinweg so formvollendet. Allein das ist erstaunlich. Der Debütantin, die zuvor bereits mehrere exquisite Kurzfilme realisiert hat, gelingt aber noch mehr. Was "Blue Jean" so außergewöhnlich macht, ist der erzählerische Fokus.
Blue Monday: Mikrokosmos Schule
Oakley, von der auch das Drehbuch stammt, erzählt von einer Zeit, die sie selbst nicht erlebt hat. Sie ist 1988 geboren, im Jahr, in dem die Handlung angesiedelt ist. Die Nachwehen hat sie jedoch indirekt am eigenen Leib erfahren, auch wenn sie sich dessen erst während der Vorbereitung auf "Blue Jean" bewusst geworden ist. Als sie zur Schule ging, war das homophobe Gesetz, um das es im Film geht, noch in Kraft. Was erklärt, warum es Oakleys gesamte Schulzeit über weder im Lehrkörper noch in der Schülerschaft queere Vorbilder gegeben habe, stellt die Regisseurin in einem Interview zum Film fest.
Vor der Folie dieser Repressalien richtet Oakley ihren Fokus auf die Sportlehrerin Jean; eine Frau, die sich buchstäblich nicht in den Vordergrund drängt. Wie Kameramann Victor Seguin diese zugleich unscheinbare und ungemein präsente Figur im Bildausschnitt positioniert, wie sein Arbeitsgerät sich ihr sanft annähert und sie aus einer Traube an Lehrern hervorhebt, wenn sich die Schlinge der neuen Gesetzgebung langsam zuzieht und ihr die Luft abschnürt, ist meisterhaft. Wie Rosy McEwen diese zerrissene Frau nicht nur spielt, sondern im wahrsten Sinne verkörpert, ist fantastisch. Dass die große, in London gemachte Politik im Drehbuch nur ein immer lauter werdendes Hintergrundrauschen bleibt und sich Oakley stattdessen darauf konzentriert, wie sich die Politik auf eine kleine Lehrerin in der nordenglischen Provinz auswirkt, ist die richtige Entscheidung. Und eine, die bis heute viel zu selten getroffen wird.
Should I Stay or Should I Go: Der Schmerz der Unentschlossenheit
Wie anders, um wie vieles lauter, zugespitzter, agitatorischer und pathetischer wäre dieser Stoff wohl in Hollywood erzählt worden? All das ist Oakley völlig fremd. Bei ihr geht niemand auf die Straße, fordert krakeelend seine Rechte ein oder bietet couragiert Autoritäten die Stirn. Oakleys Protagonistin ist ein Hasenfuß, der sich beim ersten Anzeichen eines Schattens wegduckt und zurück in seinen Bau verkriecht. Nichts könnte uns im Kinopublikum jedoch ferner liegen, als dieses Verhalten zu verurteilen. Denn die Regisseurin schwingt in ihrem Drama weder die Moralkeule noch den Holzhammer. Stattdessen zeichnet sie ein feinfühliges, einfühlsames Porträt, das nicht zuletzt darauf aufmerksam macht, dass nicht alle im Leben ein Rosa von Praunheim, ein Harvey Milk oder – um auf der britischen Insel zu bleiben – eine Angela Mason oder eine Maureen Colquhoun sein können.
Das Kino interessiert sich allzu oft nur für die wenigen großen Köpfe, die mutig vorneweg marschieren, und vergisst dabei die kleinen Leute, die von einer politischen Entscheidung wie der im Film behandelten überrollt werden. "Blue Jean" gibt ihnen eine Stimme, und die muss überhaupt nicht laut und wütend sein. Ganz im Gegenteil zieht dieses Drama gerade aus dem Zögern und Zaudern seiner Protagonistin seine Kraft. "Blue Jean" ist auch ein Film über den bittersüßen Schmerz der Unentschlossenheit.
Eine der besten Szenen hat sich Georgia Oakley für den Schluss aufgespart. Jean ist beim Kindergeburtstag ihres Neffen eingeladen und lässt die taktlosen Kommentare eines Gastes scheinbar regungslos über sich ergehen. Je mehr sich dieser um Kopf und Kragen redet, desto breiter wird jedoch Jeans unmerkliches Lächeln. Anstatt auf eloquenten Angriffsmodus zu schalten, zieht sich Jean mit einem der schönsten, lässigsten und leisesten Coming-outs der Filmgeschichte aus der peinlichen Affäre.
Friday I'm in Love: Flucht ins Wochenende
Diese lange gesuchte und endlich gefundene Akzeptanz der eigenen Situation und den daraus gewonnenen unbeschwerten Umgang damit nimmt Jean schließlich mit in die Schule. Bis es so weit ist, folgen wir ihr durch den Alltag. Der ist so perfekt ausgestattet, so grobkörnig fotografiert und so stimmungsvoll musikalisch unterlegt, dass sich "Blue Jean" nie wie nostalgisches 1980er-Reenactment ausnimmt, sondern so anfühlt, als sei der Film tatsächlich in diesem Jahrzehnt entstanden.
Wir joggen mit der Sportlehrerin durch den Nieselregen an der Küste entlang. Wir sehen ihr zu, wie sie an den Wochenenden im weit genug entfernten Newcastle im geschützten Habitat einer Kneipe voller Gleichgesinnter aufblüht; und wie sie diesen Rückzugsort durch ihre dort aufkreuzende Schülerin bedroht sieht. Wir werden Zeuge, wie Jean zwischen ihrem Berufs- und Privatleben zerrieben wird, wie sie eine fatale Entscheidung trifft und diese wiedergutzumachen versucht. Und lernen dabei etwas Entscheidendes über sie, nämlich dass, wenn sie auch selbst nicht mit ihrer Sexualität hausieren geht, sie andere unterstützen und ihnen einen alternativen, besseren Weg aufzeigen kann.
Jeans Fahrt zur Arbeit wird fortan eine andere sein und – nomen est omen – ist diese Jean Newman am Ende auch ein neuer Mensch.
Fazit: Mit "Blue Jean" legt die britische Drehbuchautorin und Regisseurin Georgia Oakley ein formvollendetes Debüt vor. Ihr Ende der 1980er-Jahre im englischen Norden angesiedelter Film ist ein feinfühliges Drama, das den Blick auf die kleinen Leute richtet. Großartig geschrieben, inszeniert und gespielt, kann man sich der Präsenz von Hauptdarstellerin Rosy McEwen und der von ihr verkörperten Titelfigur nicht entziehen. All ihrer Makel zum Trotz (oder vielleicht gerade deswegen) ist diese Jean Newman eine charismatische und charmante Frau, von der es nach wie vor zu wenige im Kino gibt. Bitte mehr davon!
Falk Straub
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Besetzung & Crew von "Blue Jean"
Land: GroßbritannienJahr: 2023
Genre: Drama, Historie
Länge: 97 Minuten
Kinostart: 05.10.2023
Regie: Georgia Oakley
Darsteller: Rosy McEwen als Jean Newman, Kerrie Hayes als Vivian Highton, Lucy Halliday als Lois Jackson, Lydia Page als Siobhan Murphy, Stacy Abalogun als Ace
Kamera: Victor Seguin
Verleih: Salzgeber & Co. Medien GmbH
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