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FBW-Bewertung: Die Sirene (2023)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Der Animationsfilm DIE SIRENE führt uns in die iranische Stadt Abadan am Beginn des Iran-Irak-Krieges. Erzählt wird die Odyssee des Jungen Omid durch die von Bombardierung betroffene Heimatstadt. Die Coming-of-Age-Geschichte weitet sich zur Heldengeschichte und schließlich zu einer Rettungsgeschichte. In märchenhafter Form überhöht, mit diesem historischem Hintergrund aufbereitet, gelingt es unter anderem sehr gut, den Zugang zur Kultur zu gewähren, in der Omid aufgewachsen ist. Omids Vater ist auf See verschollen, er besaß das größte Transportboot. Sein älterer Bruder Ahmed geht zur iranischen Freiheitsarmee, als der Krieg beginnt. Die Mutter flüchtet mit den beiden jüngeren Geschwistern in Richtung Teheran, wo es noch sicher ist. Omid entscheidet sich gegen ihren Willen, bei seinem Großvater in Abadan zu bleiben, ihm im Pflanzenhain zu helfen. Zu Beginn des Films gibt es eine Rückblende in die frühe Kindheit Omids, wo wir einem Ritual beiwohnen, zu dem der Vater höchst virtuell eine Trommel schlägt, an dessen Ende ein Hahn geopfert, ein Ring übergeben und ein anderer Mann mit einem Messer gezeichnet wird. Das Blut vom Tieropfer tropft auf den fast in Trance neugierig herbeigeschlichenen Omid. All das wird auch später im Film noch eine besondere Rolle spielen.
Der große Charme der Geschichte entfaltet sich über die wunderbaren, an japanische Animes angelehnten Zeichnungen. Die Animationen sind überaus gelungen. Wir erleben gemeinsam mit Omid die Veränderungen, die der Überfall und tägliche Beschuss der Stadt mit sich bringen. Ziel ist die Raffinerie, die das auf den nahegelegenen Feldern geförderte Erdöl verarbeitet, doch immer öfter werden auch Wohnviertel getroffen. Und mittendrin ein junger Mann, der den Weg ins Leben finden muss - ein Coming of Age unter Kriegsbedingungen. Omid ist tapfer und erfinderisch. Er lernt Menschen kennen, die in Abadan geblieben sind, am Rande, im Untergrund oder in verriegelten Häusern leben. Liebevoll gezeichnete und geschriebene Charaktere gilt es zu entdecken: einen um seine Mitmenschen besorgten Koch, eine früher sehr berühmte Sängerin und ihre Tochter, in die Omid sich verliebt, den Ingenieur, der die Raffinerie gebaut hat und nun mit seinen Katzen zurückgezogen lebt, den armenischen orthodoxen Priester, der sich in seiner Kirche versteckt und sich geschützt glaubt mit der Heiligen Jungfrau Maria und seinem jungen Organisten, den griechischen Fotografen, der die einstmals berühmte Sängerin liebt und den ominösen Kapitän, der spät die Szenerie betritt. Das Personalportfolio ist groß, plus die Armee auf beiden Seiten. Dafür, so die Ansicht der Jury, fehlt dem Drehbuch und damit der Geschichte tatsächlich etwas die Struktur. Es braucht Zeit, bis der Film seine Geschichte findet. Zum Coming-of-Age gesellt sich das Motiv der Arche, ein halbfunktionsfähiges Schiff, groß und als Rettungsboot für die solidarisch in der Stadt noch Überlebenden hergerichtet. Doch die leichte Schwäche, die auch auf der Dialogebene entsteht, die mäandernde Handlung und die fehlende Stringenz, um die historischen und geografischen Aspekte alle einordnen zu können, gleicht der Film zweifelsohne wieder aus. Konsequent aus der Perspektive Omids erzählt, fungieren die fehlende Struktur und das mäandernde Erzählen durchaus als künstlerische Form. Denn auch Omid mäandert. Die festgefügten Wege seines Lebens haben sich aufgelöst, so wie seine Familie auch. Das Sich-selbst-überlassen-sein gelingt nur allmählich. Omid aber bekommt seine Chance. Die Trommel, die er immer besser zu spielen weiß, um Unheil abzuwenden, um seiner Mission Hoffnung und Kraft zu geben, wird als erzählerisches Element stimmig eingesetzt. Am Ende gelingt der Plan und Omid findet seine Aufgabe. Die Zeichnungen geben jedem Detail Bedeutung: den Bildern an den Wänden, den Gewändern der Frauen, den Erinnerungen an eine Zeit, da auch im Iran Offenheit herrschte, Kinos Actionfilme zeigten und Frauen ohne Kopftuch auf den Straßen zu sehen waren. Es gibt philosophische Einlassungen zu den ?Erinnerungen, die viel Raum brauchen? und den Menschen, die genau deshalb an Orten festhalten, es gibt Erzählungen vom ?wahren Kriegstreiber Gott? und der Heiligen Jungfrau. Doch es gibt auch amüsante Einschübe. Damit funktioniert diese Geschichte als Familienfilm, an dem auch das erwachsene Publikum Freude und Erkenntnis finden kann. Auch wenn dem Erwachsenwerden Omids, so der kritische Einwand der Jury, ein wenig die Reibung fehlt, einige Motive nicht vollständig schlüssig aufgelöst werden: Durch den überzeugenden Protagonisten, die wunderbaren Zeichnungen, die Animationen, die auch als Standbild große emotionale Kraft ausstrahlen, überzeugt dieser Film als Coming-of-Age-Geschichte sehr gut. Emigration, Krieg, der Verlust der Eltern sind als Traumata verständlich für Kinder erzählt. Die Musik überzeugt als Brücke zwischen traditioneller Kultur und Verbindung in die moderne Welt. Es ist ein Verdienst des Films, diese Geschichte aus dem Iran-Irak-Krieg zu erzählen, was bisher so noch nicht oft geschehen ist. Als europäische Koproduktion steht diese eher französische Emigrationsgeschichte auch stellvertretend für eine neue Generation, die Erinnerungen, familiäre Wurzeln und ihre Herkunft aus den Kriegsregionen mitbringt und in unsere Gegenwart einspeist. Gern mehr davon!



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