Atlas (2022)

Wie verändert ein Schicksalsschlag einen Menschen und wie findet er danach zurück ins Leben? Diese Fragen hat sich der Regisseur und Drehbuchautor Niccolò Castelli bei seinem zweiten abendfüllenden Spielfilm gestellt. Die Ausgangssituation, die der 1982 in Lugano geborene Filmemacher gewählt hat, verschärft die Frage noch. Denn seine Hauptfigur Allegra (Matilda De Angelis) zieht sich nicht nur von der Welt zurück, sondern entwickelt auch eine Angst vor dem Fremden.

Allegra bedeutet die Fröhliche. Der Name ist nicht zufällig gewählt. In Castellis alternierend auf zwei Zeitebenen erzähltem Drama ist Nomen Omen. Durch den Terroranschlag verliert die Protagonistin ihre Fröhlichkeit. Fortan scheint das gesamte Gewicht der Welt auf ihren von Narben übersäten Schultern zu lasten. Matilda De Angelis spielt das so überzeugend, dass sie bereits mehrfach dafür ausgezeichnet worden ist. Wiederholt nimmt Pietro Zuerchers Kamera ihren Rücken, ihre Arme, Hände und Beine en détail in den Blick, zeigt ihre Muskulatur und wie ihre Figur durch hartes Training aus ihrem emotionalen Loch wieder herausklettert.

Der titelgebende Atlas steht aber nicht nur für die emotionale Last, die Allegra in Form von Schuldgefühlen mit sich herumschleppt. Der Filmtitel steht ganz konkret für das Atlas-Gebirge, das Allegra mit ihren Freunden erklimmen wollte und das sie ganz schließlich allein bezwingt. Und er steht im übertragenen Sinn für die Weltoffenheit weitgereister Menschen, die Allegra zu verlieren droht und doch wiederfindet. Dafür bedarf es der Begegnung mit einem Fremden, der am Ende mehr mit der Protagonistin gemeinsam hat, als diese eingangs vermutet.

Niccolò Castelli erzählt all das sehr ruhig, differenziert und von pulsierender Livemusik getragen.

Fazit: In seinem zweiten abendfüllenden Spielfilm erzählt der Schweizer Niccolò Castelli von einer Frau, die in ein emotionales Loch stürzt und durch die Konfrontation mit dem Fremden und ihre Liebe zum Bergsteigen wieder daraus emporklettert. "Atlas" ist ein ruhig inszeniertes, differenziert erzähltes und überzeugend gespieltes Drama.