Nachbarn (2022)
Neighbours
Humor und Humanismus: Schweizer Drama über einen kleinen Jungen, der während des Assad-Regimes an der syrisch-türkischen Grenze aufwächst.Kritiker-Film-Bewertung:User-Film-Bewertung :
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Syrien vor 40 Jahren: Der sechsjährige Sero (Serhed Khalil) wächst an der Grenze zur Türkei auf. Seine Großeltern (Zîrek, Nasimah Daher) und seine Eltern Salim (Heval Naif) und Raoshan (Jiyan Armanc) sind wie fast alle im Dorf Kurden. Seine Nachbarn Nahum (Jay Abdo), Rosa (Tuna Dwek) und deren erwachsene Tochter Hannah (Derya Uygurlar) sind Juden, denen man nach der Machtergreifung von Hafiz al-Assad die syrische Staatsbürgerschaft entzogen hat. Jeden Freitag am Sabbat zündet Sero ihnen die Lichter und den Gaskocher in ihrer bescheidenen Behausung an. Strom hat Seros Dorf noch keinen, doch er wird sehnsüchtig erwartet. Denn der kleine Junge möchte endlich einen Fernseher, um wie die Kinder aus der Stadt Cartoons sehen zu können.
Von Politik bekommt Sero nicht viel mehr mit als die Streiche, die er mit seinem Lieblingsonkel Aram (Ismail Zagros) ausheckt. Mit dem lässt er an der syrisch-türkischen Grenze schon mal Luftballons in den kurdischen Nationalfarben steigen, um die türkischen Grenzposten zu ärgern. Mit Seros Einschulung ändert sich alles. Der neue, dafür extra hergezogene Lehrer (Jalal Altawil) führt ein strenges Regime. Selbst Genosse Djasim (Mazen Alnatour), seines Zeichens Schulwart und der einzige Araber und Baath-Partei-Mitglied in der Gegend, muss beim ihm die Schulbank drücken. Von ihrem Lehrer bekommen Sero und seine Mitschüler nicht nur die arabische Sprache eingeprügelt, sondern werden auch auf einen gemeinsamen Feind eingeschworen. Nach und nach zeigen die Maßnahmen Wirkung.
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Filmkritik
In jüngster Zeit tauchen sie wieder vermehrt auf, jene Filme, die durch Kinderaugen auf Krisenherde blicken, sich dabei aber weder den Humor noch den Humanismus nehmen lassen und so zu ganz großem Kino werden. Im vergangenen Jahr war das "Belfast" von Kenneth Branagh, in diesem Jahr ist es "Nachbarn" von Mano Khalil. Auffällig ist, dass beide Regisseure in ihren Opera magna auf eigene Kindheitserinnerungen zurückgreifen. Vielleicht ist man also tatsächlich immer dann am besten, wenn man von dem erzählt, was man kennt.
Khalil, 1964 geboren und gerade eingeschult, als Hafiz al-Assad die Macht in Syrien ergriff, kennt den schulischen Drill, den sein Alter Ego im Film durchmacht. "Morgengeschrei" nennt Khalil die täglichen Appelle in der Rückschau und kann sich bei deren Inszenierung die Seitenhiebe nicht verkneifen, wie sein Film überhaupt von subtilem Humor und leisem Spott für jegliche Obrigkeit durchzogen ist. Die Rufe des Muezzins etwa verkommen bei Khalil zu unverständlichem Geplärre, über das die Dorfbewohner genervt die Augen verdrehen. Und keiner verdreht die Augen so schön wie Khalils Alter Ego Sero. "Nachbarn" ist auch einer jener Film, der alle Gefühle dieser Welt in den Blicken seiner Figuren versammelt.
Der in Syrien geborene und heute in der Schweiz lebende Filmemacher erzählt seine Geschichte in einer langen Rückblende. Es ist die Geschichte eines Landes, das es nicht gibt und den Deutschen spätestens seit Karl May bekannt ist: Kurdistan. Von den Kolonialmächten bei ihrer Aufteilung des Nahen Ostens vergessen, erstreckt sich das kurdische Siedlungsgebiet heute über die Türkei, den Irak, den Iran und Syrien. Im türkisch-syrischen Grenzgebiet, um das es in Khalils Film geht, werden die Kurden von beiden Seiten unterdrückt. Mit ihren jüdischen Nachbarn (die auch der Regisseur als Sechsjähriger hatte) kommen sie hingegen gut aus. Das Zusammenleben der Religionen war dort nie ein Problem. Erst die aufoktroyierte Politik macht es zu einem. In der filmischen Gegenwart, von der aus die Rückblende erzählt wird, hat der Syrienkrieg Seros Familie zu Geflüchteten gemacht. Unterdrückung und Leid überdauern mehrere Generationen, und doch verkommt Khalils Familiendrama nicht zu einem Wehklagen oder einer Anklage.
Das liegt zum einen an der Perspektive. Durch die Augen des sechsjährigen Sero erzählt, nähert sich das Drama selbst den grausamsten Themen mit kindlicher Neugier, Naivität und ungläubigem Staunen. Seros Darsteller Serhed Khalil ist ein kleines Wunder. Kinder wie er, die eine komplette Spielhandlung, noch dazu eine, die mehr als zwei Stunden dauert, allein mit ihren wissbegierigen Augen und einem schüchternen Lächeln tragen können, findet man in der Filmgeschichte nur wenige. Zum anderen liegt es an den wundervoll geschriebenen Figuren um den kleinen Sero herum und last but not least am Ensemble, das diese verkörpert. Es ist nicht nur bis in die kleinste Nebenrolle perfekt besetzt, es fällt auch keine, aber auch wirklich keine schauspielerische Leistung ab.
Mano Khalil, der das Drehbuch selbst verfasst hat, hat nicht nur unglaublich plastische Figuren erschaffen, er bringt auch jedem von ihnen Liebe entgegen, so charakterschwach sie auch sein mögen. Selbst Antagonisten wie der Lehrer sind nicht durchweg schlecht; auch in ihnen steckt zumindest ein Körnchen Gutes, was diesen Film letztlich um so vieles facettenreicher macht als viele vergleichbare Werke.
Das Schöne an "Nachbarn" ist die Unaufgeregtheit und Beiläufigkeit, mit der sein Regisseur seine Geschichte erzählt. Seros Lieblingsonkel Aram (Ismail Zagros) kritisiert das Regime lauthals und muss den Preis dafür postwendend bezahlen. Sein Aufbegehren mag mutig sein, es ist aber auch töricht. Die wahren Helden sind die stillen wie Seros Vater (großartig: Heval Naif), der die Korruption und Schikanen während eines lebensrettenden Behördengangs mit regloser Miene erträgt, und Seros Großvater (herausragend: Zîrek), der dem Regime stoisch die Stirn bietet.
Überhaupt ist Khalils Drama von stillem Protest durchzogen. Die Figuren sprechen nur, wo es nötig ist, dann aber höchst pointiert. Hinter höflichen Formulierungen verstecken sich messerscharfe Analysen und kleine Nadelstiche, die ins Mark treffen. Am Ende werden die alten, stoischen Männer mit ihren Aussagen recht behalten. Während der Lehrer, der die Kinder umerziehen wollte, wieder abreisen muss und seine arabische Palme, die er symbolisch vor das Schulgebäude pflanzte, umgehend eingegangen ist, sind die Kurden, die sich all den Trubel still und leise angesehen haben, immer noch da.
Fazit: Mano Khalils neuer Film ist ein Meisterwerk. Fabelhaft fotografiert und mit langem Atem erzählt, blickt der in der Schweiz lebende kurdische Regisseur durch die Augen eines sechsjährigen Jungen auf das bewegende Schicksal einer kurdischen Familie und ihrer jüdischen Nachbarn im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Ein Familiendrama voll von lakonischem Humor, stoischer Ruhe und symbolträchtigen Bildern. Ein Film, der die entscheidenden Dinge im Unausgesprochenen sagt, der zu Tränen rührt, ohne rührselig zu sein und der sich trotz allen Leids stets seinen Humanismus bewahrt.
Khalil, 1964 geboren und gerade eingeschult, als Hafiz al-Assad die Macht in Syrien ergriff, kennt den schulischen Drill, den sein Alter Ego im Film durchmacht. "Morgengeschrei" nennt Khalil die täglichen Appelle in der Rückschau und kann sich bei deren Inszenierung die Seitenhiebe nicht verkneifen, wie sein Film überhaupt von subtilem Humor und leisem Spott für jegliche Obrigkeit durchzogen ist. Die Rufe des Muezzins etwa verkommen bei Khalil zu unverständlichem Geplärre, über das die Dorfbewohner genervt die Augen verdrehen. Und keiner verdreht die Augen so schön wie Khalils Alter Ego Sero. "Nachbarn" ist auch einer jener Film, der alle Gefühle dieser Welt in den Blicken seiner Figuren versammelt.
Der in Syrien geborene und heute in der Schweiz lebende Filmemacher erzählt seine Geschichte in einer langen Rückblende. Es ist die Geschichte eines Landes, das es nicht gibt und den Deutschen spätestens seit Karl May bekannt ist: Kurdistan. Von den Kolonialmächten bei ihrer Aufteilung des Nahen Ostens vergessen, erstreckt sich das kurdische Siedlungsgebiet heute über die Türkei, den Irak, den Iran und Syrien. Im türkisch-syrischen Grenzgebiet, um das es in Khalils Film geht, werden die Kurden von beiden Seiten unterdrückt. Mit ihren jüdischen Nachbarn (die auch der Regisseur als Sechsjähriger hatte) kommen sie hingegen gut aus. Das Zusammenleben der Religionen war dort nie ein Problem. Erst die aufoktroyierte Politik macht es zu einem. In der filmischen Gegenwart, von der aus die Rückblende erzählt wird, hat der Syrienkrieg Seros Familie zu Geflüchteten gemacht. Unterdrückung und Leid überdauern mehrere Generationen, und doch verkommt Khalils Familiendrama nicht zu einem Wehklagen oder einer Anklage.
Das liegt zum einen an der Perspektive. Durch die Augen des sechsjährigen Sero erzählt, nähert sich das Drama selbst den grausamsten Themen mit kindlicher Neugier, Naivität und ungläubigem Staunen. Seros Darsteller Serhed Khalil ist ein kleines Wunder. Kinder wie er, die eine komplette Spielhandlung, noch dazu eine, die mehr als zwei Stunden dauert, allein mit ihren wissbegierigen Augen und einem schüchternen Lächeln tragen können, findet man in der Filmgeschichte nur wenige. Zum anderen liegt es an den wundervoll geschriebenen Figuren um den kleinen Sero herum und last but not least am Ensemble, das diese verkörpert. Es ist nicht nur bis in die kleinste Nebenrolle perfekt besetzt, es fällt auch keine, aber auch wirklich keine schauspielerische Leistung ab.
Mano Khalil, der das Drehbuch selbst verfasst hat, hat nicht nur unglaublich plastische Figuren erschaffen, er bringt auch jedem von ihnen Liebe entgegen, so charakterschwach sie auch sein mögen. Selbst Antagonisten wie der Lehrer sind nicht durchweg schlecht; auch in ihnen steckt zumindest ein Körnchen Gutes, was diesen Film letztlich um so vieles facettenreicher macht als viele vergleichbare Werke.
Das Schöne an "Nachbarn" ist die Unaufgeregtheit und Beiläufigkeit, mit der sein Regisseur seine Geschichte erzählt. Seros Lieblingsonkel Aram (Ismail Zagros) kritisiert das Regime lauthals und muss den Preis dafür postwendend bezahlen. Sein Aufbegehren mag mutig sein, es ist aber auch töricht. Die wahren Helden sind die stillen wie Seros Vater (großartig: Heval Naif), der die Korruption und Schikanen während eines lebensrettenden Behördengangs mit regloser Miene erträgt, und Seros Großvater (herausragend: Zîrek), der dem Regime stoisch die Stirn bietet.
Überhaupt ist Khalils Drama von stillem Protest durchzogen. Die Figuren sprechen nur, wo es nötig ist, dann aber höchst pointiert. Hinter höflichen Formulierungen verstecken sich messerscharfe Analysen und kleine Nadelstiche, die ins Mark treffen. Am Ende werden die alten, stoischen Männer mit ihren Aussagen recht behalten. Während der Lehrer, der die Kinder umerziehen wollte, wieder abreisen muss und seine arabische Palme, die er symbolisch vor das Schulgebäude pflanzte, umgehend eingegangen ist, sind die Kurden, die sich all den Trubel still und leise angesehen haben, immer noch da.
Fazit: Mano Khalils neuer Film ist ein Meisterwerk. Fabelhaft fotografiert und mit langem Atem erzählt, blickt der in der Schweiz lebende kurdische Regisseur durch die Augen eines sechsjährigen Jungen auf das bewegende Schicksal einer kurdischen Familie und ihrer jüdischen Nachbarn im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Ein Familiendrama voll von lakonischem Humor, stoischer Ruhe und symbolträchtigen Bildern. Ein Film, der die entscheidenden Dinge im Unausgesprochenen sagt, der zu Tränen rührt, ohne rührselig zu sein und der sich trotz allen Leids stets seinen Humanismus bewahrt.
Falk Straub
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Besetzung & Crew von "Nachbarn"
Land: SchweizJahr: 2022
Genre: Drama
Originaltitel: Neighbours
Länge: 124 Minuten
Kinostart: 13.10.2022
Regie: Mano Khalil
Darsteller: Jay Abdo als Nahum, Sherzad Abdullah als Sero 47, Abdeslam Suleiman Abed als Iwazaru, Mazen Al Natour als Djasim, Jalal Al Tawil als Wahid Hanouf
Kamera: Stéphane Kuthy
Verleih: barnsteiner-film
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