Evolution (2021)
Gang durch die Generationen: ungarisch-deutsches Episodendrama über eine Familie in den Nachwehen des Holocaust.Kritiker-Film-Bewertung:User-Film-Bewertung :
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Auschwitz 1945: Drei namenlose Mitarbeiter des polnischen Roten Kreuzes (Harald Kolaas, Erik Major, László Katona) reinigen eine Gaskammer. Beim Putzen finden sie, in einem Abflussschacht versteckt, ein kleines Mädchen und nennen es Éva.
Budapest circa 70 Jahre später: Éva (Lili Monori) soll am heutigen Tag eine Ehrung erhalten. Ihre Tochter Léna (Annamária Láng), die seit Kurzem in Berlin wohnt, ist dafür eigens aus Deutschland angereist. Doch Éva hat keine Lust, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Und noch ein weiteres Problem tut sich auf. Für einige Behördengänge benötigt Léna von ihrer Mutter die dafür notwendigen Papiere. Doch alle Papier, die Éva besitzt, sind gefälscht. Ein Streitgespräch über ihre jüdische Herkunft und über Lénas schwierige Kindheit entbrennt.
Berlin in unserer Gegenwart: Zwischen Léna und ihrem Sohn Jónás (Goya Rego) hängt der Haussegen schief. Für einen Martinsumzug hat Léna ihrem Sohn eine Laterne mit Chanukka-Motiven gebastelt. Einige von Jónás' Mitschülern stecken sie in Brand. Während Léna ihr Jüdischsein lebt, wird Jónás dafür gemobbt und ist unentschlossen, wie er zu seinem kulturellen Erbe stehen soll. Augen hat er derweil nur für Yasmin (Padmé Hamdemir), eine muslimische Schülerin aus der Parallelklasse.
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Filmkritik
Eines der spannendsten filmischen Kreativteams kommt derzeit aus Ungarn. Regisseur Kornél Mundruczó und Drehbuchautorin Kata Wéber gehen auch privat gemeinsame Wege. Wo Wébers Drehbücher aufhören und Mundruczós Inszenierung anfängt, lässt sich nicht ohne Weiteres sagen, weshalb konsequenterweise im Vorspann beider Namen genannt werden, wenn es darum geht, von wem der Film stammt. "Evolution" ist der vierte Film des Paars und erneut eine Weiterentwicklung.
Mundruczós und Wébers Filme waren schon immer politisch, zu Beginn ihrer Zusammenarbeit war der Einfluss des Genrekinos aber noch augenfälliger. "Underdog" (2014) war ein unausgewogener Mix aus Gesellschaftsparabel, Coming-of-Age- und Horrorfilm. "Jupiter's Moon" (2017) mischte Politisches und Soziales mit Drama und Mystery und war zwar wild, aber weitaus stimmiger als noch "Underdog". Ein so ruhiges und rundum gelungenes Drama wie "Pieces of a Woman" (2020) kam drei Jahre später ein wenig überraschend. Dass die beiden weiter in diese Richtung gehen würden, war hingegen zu erwarten.
Nach ihrem Ausflug in die englischsprachigen USA sind Mundruczó und Wéber mit "Evolution" nach Europa zurückgekehrt. Gesprochen wird Polnisch, Ungarisch und Deutsch, denn die drei Kapitel ihres Episodendramas starten mit einer Gruppe Rotkreuz-Mitarbeitern in den Gaskammern von Auschwitz, ziehen in eine Budapester Wohnung weiter und enden in unserer Gegenwart in den Straßen Berlins. Drei Geschichten jüdischen Lebens in drei scheinbar ungeschnittenen Einstellungen. Die Erzählung auf drei Lebensmomente dreier Generationen zu verkürzen und sie in einem Vernichtungslager beginnen zu lassen, ist kühn. Ihre Umsetzung ist virtuos.
Mundruczó hat abermals seinen Kameramann gewechselt. Auf Marcell Rév ("Underdog", "Jupiter's Moon") und Benjamin Loeb ("Pieces of a Woman") folgt Yorick Le Saux. Der 1968 geborene Franzose blickte unter anderem für François Ozons "Swimming Pool" (2003) und "5x2 – Fünf mal zwei" (2004), Luca Guadagninos "I Am Love" (2009), Jim Jarmuschs "Only Lovers Left Alive" (2013) und Olivier Assayas' "Die Wolken von Sils Maria" (2014) und "Personal Shopper" (2016) durch den Sucher. In "Evolution" findet er für jedes Kapitel die perfekte Einstellung und das richtige Tempo.
Alle drei Episoden sind scheinbar ungeschnitten. Bei der letzten sind die kaschierten Schnitte am leichtesten zu erkennen. Große Teile der einzelnen Episoden sind aber tatsächlich in langen Plansequenzen entstanden und ziehen das Kinopublikum mit ihrer Unmittelbarkeit in einen Sog, dem es sich nicht entziehen kann. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins wird in der Auftaktepisode durch das Sounddesign verstärkt. Das Publikum ist mitten drin in einem perfekt choreografierten Tanz der Körper, der sich durch die Geräuschkulisse zu einem Alptraum auswächst. Nach und nach bekommt diese kleine, hermetisch abgeriegelte Welt Risse, aus denen der Putztrupp immer längere, schleimige Haarknäuel zieht, bevor Kindergeschrei die Arbeit unterbricht und der Boden ein Baby freigibt. Selbst das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit konnte dieses neue Leben nicht vernichten. Wie die erste Frau der Menschheitsgeschichte heißt dieses Kind Éva.
Das Metaphorische als Markenzeichen der Filme Mundruczós und Wébers bleibt also auch "Evolution" erhalten. Im Gegensatz zu ihrem Frühwerk ist es auf ein Minimum reduziert. Ihre Wirkung verfehlen die Metaphern trotzdem nicht, etwa wenn in der zweiten Episode ein nicht eindeutig zu lokalisierender Wasserrohrbruch die Budapester Wohnung flutet. Alle Dämme brechen und (Familien-)Geschichte wird einfach weggeschwemmt.
Wie schon "Pieces of a Woman" hat auch "Evolution" einen persönlichen Bezug. Ein Großteil des Films ist von Wébers eigener Familiengeschichte inspiriert und die Episode in Berlin beruht auf Erfahrungen, die Mundruczó und Wéber gemacht haben, seit sie selbst von Budapest nach Berlin gezogen sind. Dabei gelingt es ihnen erneut, diese persönlichen Bezüge auf eine allgemeinere und gesamtgesellschaftliche Ebene zu übertragen.
"Evolution" erzählt vom Holocaust und dessen Auswirkungen, die bis in die zweite Generation der Nachgeborenen reichen. Das Drama erzählt von gefühltem und ganz realem Antisemitismus, von uraltem und neuem und von der Gefahr, diesen aus falsch verstandener Toleranz gegenüber anderen Minderheiten herunterzuspielen. Es geht um Kontinuitäten, aber auch um Fortentwicklung. Und ganz am Ende keimt Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Fazit: Auch der neue Film von Kornél Mundruczó und Kata Wéber ist ein Meisterwerk. "Evolution" ist ein feinfühliges und metaphorisches Familiendrama über die Nachwehen des Holocaust, die selbst die zweite Generation an Nachgeborenen erfassen. Kühn geschrieben und kongenial inszeniert, beweisen die zwei inzwischen in Berlin lebenden Ungarn, warum sie zu den besten Kreativteams zählen, die das Kino derzeit zu bieten hat.
Mundruczós und Wébers Filme waren schon immer politisch, zu Beginn ihrer Zusammenarbeit war der Einfluss des Genrekinos aber noch augenfälliger. "Underdog" (2014) war ein unausgewogener Mix aus Gesellschaftsparabel, Coming-of-Age- und Horrorfilm. "Jupiter's Moon" (2017) mischte Politisches und Soziales mit Drama und Mystery und war zwar wild, aber weitaus stimmiger als noch "Underdog". Ein so ruhiges und rundum gelungenes Drama wie "Pieces of a Woman" (2020) kam drei Jahre später ein wenig überraschend. Dass die beiden weiter in diese Richtung gehen würden, war hingegen zu erwarten.
Nach ihrem Ausflug in die englischsprachigen USA sind Mundruczó und Wéber mit "Evolution" nach Europa zurückgekehrt. Gesprochen wird Polnisch, Ungarisch und Deutsch, denn die drei Kapitel ihres Episodendramas starten mit einer Gruppe Rotkreuz-Mitarbeitern in den Gaskammern von Auschwitz, ziehen in eine Budapester Wohnung weiter und enden in unserer Gegenwart in den Straßen Berlins. Drei Geschichten jüdischen Lebens in drei scheinbar ungeschnittenen Einstellungen. Die Erzählung auf drei Lebensmomente dreier Generationen zu verkürzen und sie in einem Vernichtungslager beginnen zu lassen, ist kühn. Ihre Umsetzung ist virtuos.
Mundruczó hat abermals seinen Kameramann gewechselt. Auf Marcell Rév ("Underdog", "Jupiter's Moon") und Benjamin Loeb ("Pieces of a Woman") folgt Yorick Le Saux. Der 1968 geborene Franzose blickte unter anderem für François Ozons "Swimming Pool" (2003) und "5x2 – Fünf mal zwei" (2004), Luca Guadagninos "I Am Love" (2009), Jim Jarmuschs "Only Lovers Left Alive" (2013) und Olivier Assayas' "Die Wolken von Sils Maria" (2014) und "Personal Shopper" (2016) durch den Sucher. In "Evolution" findet er für jedes Kapitel die perfekte Einstellung und das richtige Tempo.
Alle drei Episoden sind scheinbar ungeschnitten. Bei der letzten sind die kaschierten Schnitte am leichtesten zu erkennen. Große Teile der einzelnen Episoden sind aber tatsächlich in langen Plansequenzen entstanden und ziehen das Kinopublikum mit ihrer Unmittelbarkeit in einen Sog, dem es sich nicht entziehen kann. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins wird in der Auftaktepisode durch das Sounddesign verstärkt. Das Publikum ist mitten drin in einem perfekt choreografierten Tanz der Körper, der sich durch die Geräuschkulisse zu einem Alptraum auswächst. Nach und nach bekommt diese kleine, hermetisch abgeriegelte Welt Risse, aus denen der Putztrupp immer längere, schleimige Haarknäuel zieht, bevor Kindergeschrei die Arbeit unterbricht und der Boden ein Baby freigibt. Selbst das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit konnte dieses neue Leben nicht vernichten. Wie die erste Frau der Menschheitsgeschichte heißt dieses Kind Éva.
Das Metaphorische als Markenzeichen der Filme Mundruczós und Wébers bleibt also auch "Evolution" erhalten. Im Gegensatz zu ihrem Frühwerk ist es auf ein Minimum reduziert. Ihre Wirkung verfehlen die Metaphern trotzdem nicht, etwa wenn in der zweiten Episode ein nicht eindeutig zu lokalisierender Wasserrohrbruch die Budapester Wohnung flutet. Alle Dämme brechen und (Familien-)Geschichte wird einfach weggeschwemmt.
Wie schon "Pieces of a Woman" hat auch "Evolution" einen persönlichen Bezug. Ein Großteil des Films ist von Wébers eigener Familiengeschichte inspiriert und die Episode in Berlin beruht auf Erfahrungen, die Mundruczó und Wéber gemacht haben, seit sie selbst von Budapest nach Berlin gezogen sind. Dabei gelingt es ihnen erneut, diese persönlichen Bezüge auf eine allgemeinere und gesamtgesellschaftliche Ebene zu übertragen.
"Evolution" erzählt vom Holocaust und dessen Auswirkungen, die bis in die zweite Generation der Nachgeborenen reichen. Das Drama erzählt von gefühltem und ganz realem Antisemitismus, von uraltem und neuem und von der Gefahr, diesen aus falsch verstandener Toleranz gegenüber anderen Minderheiten herunterzuspielen. Es geht um Kontinuitäten, aber auch um Fortentwicklung. Und ganz am Ende keimt Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Fazit: Auch der neue Film von Kornél Mundruczó und Kata Wéber ist ein Meisterwerk. "Evolution" ist ein feinfühliges und metaphorisches Familiendrama über die Nachwehen des Holocaust, die selbst die zweite Generation an Nachgeborenen erfassen. Kühn geschrieben und kongenial inszeniert, beweisen die zwei inzwischen in Berlin lebenden Ungarn, warum sie zu den besten Kreativteams zählen, die das Kino derzeit zu bieten hat.
Falk Straub
TrailerAlle "Evolution"-Trailer anzeigen
Besetzung & Crew von "Evolution"
Land: Ungarn, DeutschlandJahr: 2021
Genre: Drama
Länge: 97 Minuten
Kinostart: 25.08.2022
Regie: Kornél Mundruczó
Darsteller: Lili Monori als Éva, Annamária Láng als Léna, Goya Rego als Jónás, Padmé Hamdemir als Yasmin, Harald Kolaas als Cleaner I.
Kamera: Yorick Le Saux
Verleih: Port au Prince Pictures GmbH
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