FBW-Bewertung: Nicht ganz Koscher - Eine göttliche Komödie (2022)
Prädikat besonders wertvoll
Jurybegründung: Eine weite Wüstenlandschaft. Ein verlorener orthodoxer Jude läuft eine einsame Straße entlang. Im Off beginnt er, seine Geschichte zu erzählen: ?Es ist lange her, dass ich auf diese Reise ging, und obwohl sie mein Leben beendete, war es das Beste, das ich je tat.? Es wäre wahrlich kein Wunder, wenn Ben in dieser unwirtlichen Umgebung sein Leben lassen müsste. In traditioneller Bekleidung und beladen mit viel Gepäck bewegt er sich durch die Wüste wie durch das chassidische Viertel Borough Park daheim in Brooklyn. Selbst die religiösen Vorschriften hält er strikt ein und benutzt das mitgeführte Wasser für regelmäßige rituelle Reinigungen. Doch Bens Gottvertrauen zahlt sich aus, und der Beduine Adel wird zu seinem Retter. Der hat zwar keine Lust auf die Gesellschaft dieses weltentrückten Religiösen, aber er kann einen Fremden in der Wüste nicht einfach seinem Schicksal überlassen, sondern muss ihn beschützen. Von nun an sind die beiden völlig ungleichen Männer gemeinsam unterwegs und zum Überleben aufeinander angewiesen, insbesondere nachdem ? nicht zuletzt durchs Bens Wasserverbrauch ? der Wagen den Geist aufgibt und sie ihren Weg zu Fuß fortsetzen müssen. Dabei sorgen die fehlende Lebenspraxis des einen und der schroffe Pragmatismus des anderen immer wieder für Konflikte und für Komik.Die Regisseure Stefan Sarazin und Peter Keller, die auch das bereits prämierte Drehbuch geschrieben haben, erzählen keine herkömmliche Culture-Clash-Komödie vom Aufeinandertreffen zweier konträrer Charaktere oder dem Aufeinanderprallen von verschiedenen Kulturen, sondern es geht ihnen um nichts Geringeres als die Konfrontation und Handreichung der großen monotheistischen Religionen im Nahen Osten, der Region, in der sie ihren Ursprung haben und die bis heute von politischen Konflikten geprägt ist. Ein heikles Unterfangen, das den beiden aber gut gelingt, weil sie über profunde Kenntnis der Region und ihrer Religionen verfügen, weil sie die Genre-Konventionen beherrschen, aber auch keine Angst vor märchenhaften Elementen haben, und vor allem, weil sie zwei großartige Charaktere kreieren und eine zutiefst menschliche Geschichte der Annäherung erzählen.
Sind die Figuren anfänglich eher stereotyp gezeichnet, so gewinnen sie im Laufe ihrer gemeinsamen Reise immer mehr an Kontur und Tiefe. Die Vorurteile geraten ins Wanken, Klischees lösen sich auf, und zum Vorschein kommen zwei sensible Menschen mit ihrer persönlichen Geschichte und ihren Verletzungen. Es stellt sich heraus, dass Ben, der bisher in seiner ultraorthodoxen, streng abgeschiedenen Gemeinde gelebt und allenfalls still gegen die Erwartungen der Familie und des religiösen Umfelds aufbegehrt hat, seit langem verliebt ist in Toybe vom Bagel Shop, die er jeden Abend anruft, ohne je ein Wort mit ihr zu wechseln. Er weiß nicht, was er tun soll, denn eine berufstätige Frau wäre in seinem chassidischen Umfeld nicht akzeptabel. Auch Adel hat Schwierigkeiten mit der Familie, hadert aber vor allem mit dem Schicksal der Beduinen, deren Kultur im Niedergang begriffen ist und die sich zunehmend im Tourismus verdingen müssen, um zu überleben. In dieser allmählichen Annäherung verliert Ben seine Angst vor dem schroffen Beduinen und dieser seinen Zorn auf den unbedarft-unverschämten Orthodoxen. Für Adel ist es gerade Bens naive Weltabgewandtheit, die ihm hilft, in Ben keinen Feind zu sehen, sondern einen Menschen, der seiner Fürsorge bedarf. Am Ende wird Adel für Ben und seine Glaubensbrüder einen Freundschaftsdienst erbringen, der weit über die traditionelle beduinische Hilfsbereitschaft hinausgeht.
Wesentlichen Anteil am Abbau der Vorurteile haben die gemeinsamen Mahlzeiten und ihre Zubereitung unter einfachsten Bedingungen. Auch hierbei prallen zunächst die Gegensätze aufeinander, wenn Adel betont: ?Wenn Beduinen zusammen essen, gibt es keinen Streit? und Ben entgegnet: ?Wir essen koscher, damit wir uns nicht vermischen.? Aber die religiösen Vorschriften verlieren zunehmend an Bedeutung, und irgendwann ist es für Ben akzeptabel, wenn das Essen ?nicht ganz koscher? ist. Als die beiden schließlich in einem tiefen Brunnenschacht festsitzen und auf ihre jeweils eigene Art beten, zeigt sich der unterschiedliche Umgang der monotheistischen Religionen mit dem Namen Gottes: Während der Muslim Adel die 99 Namen Allahs aufruft, die im Islam gebräuchlich sind, bleibt dem orthodoxen Juden Ben nur ?HaSchem? zur Bezeichnung, weil ?Der Name? Gottes nicht genannt werden darf. Dieser Unterschied markiert in der prekären Lage, in der die beiden sich befinden, aber keinen Gegensatz mehr, sondern stärkt vielmehr das Verständnis des anderen und die Achtung seiner Religion. Dabei kommen sie quasi nebenbei zu der Erkenntnis, dass sie, wenn sie doch überzeugt sind, dass es nur einen Gott gibt, beide den gleichen Gott anbeten. Nach ihrer wundersamen Rettung begegnen sie im griechisch-orthodoxen Katharinenkloster am Fuße des Berges Sinai, des ?Mosesberges?, schließlich Vertretern der dritten großen monotheistischen Religion.
Stefan Sarazin und Peter Keller haben für ihre berührende Geschichte hervorragende Darsteller gefunden. Luzer Twersky, der selbst einer ultraorthodoxen Gemeinde in Brooklyn entstammt, als Ben sowie Haitham Omari als Adel agieren mit viel Charisma und großer Authentizität, und selbst die kleinen Nebenrollen sind mit bekannten Schauspielern der Region überzeugend besetzt. Große dramaturgische Bedeutung kommt der ebenso lebensfeindlichen wie traumhaft schönen Wüstenlandschaft zu, die von Holger Jungnickel und Alexander Haßkerl mit der Kamera in langen, ruhigen Einstellungen mit vielen Totalen und schönen Lichtstimmungen wunderbar eingefangen wird. Die Filmmusik, komponiert von Matthias Petsche in Kooperation mit dem Multi-Instrumentalisten Michael Popp, überzeugt durch Variationen und Interpretationen sephardisch-jüdischer und arabischer Themen und Klangtraditionen.
Für seine märchenhafte Geschichte vom Entstehen einer tiefen Freundschaft über alle Gegensätze hinweg wurde dem Film das Prädikat BESONDERS WERTVOLL zuerkannt.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)