FBW-Bewertung: We are all Detroit - Vom Bleiben und Verschwinden (2021)
Prädikat besonders wertvoll
Jurybegründung: Was haben Detroit und Bochum gemein? - Richtig, die Automobilindustrie, oder besser gesagt, dass aus beiden Städten die Autoindustrie verschwunden ist. WE ARE ALL DETROIT ? VOM BLEIBEN UND VERSCHWINDEN ist eine Geschichte des Verfalls. Was Detroit einst vorweg genommen hat, droht jetzt vielen Städten. Auf die Industrialisierung folgte dort rund 150 Jahre später nicht die Postindustrialiserung, sondern eine Deindustrialisierung. Seitdem gilt Detroit als ein Synonym für den Niedergang westlicher Industriestädte. 2015, nach der Schließung der Opelwerke, ist auch Bochum in diese Riege getreten.Ulrike Franke und Michael Loeken haben über mehrere Jahre Detroit und Bochum bereist und auf Veränderungen geschaut, die die Standortschließungen verursacht haben. Daraus entstanden ist eine äußerst lebendige Dokumentation, die von tollen Protagonisten in Form von Interview- bzw. Ansprechpartnern getragen wird. Tatsächlich haben Loeken und Franke weder mit Inserts noch eingesprochenen Texten korrigierend eingegriffen. Bis auf Andreas Gryphius vorangestelltes Poem ?Alles Eitel? lebt WE ARE ALL DETROIT von den Aussagen der Akteure vor der Kamera: Ehemalige Arbeiter, Imbissbuden- und Ladenbesitzer, Menschen, die sowohl die Zeit des Wohlstands, wie auch des Abstiegs mitbekommen haben. ?Echte? Akteure, die kein Spielfilm hätte so inszenieren können.
Dass das Autoren-, bzw. Regiepaar sowohl die menschlich-sozialen als auch die städteplanerischen Aspekte des Niedergangs fokussiert, verleiht ihrer Dokumentation nicht nur ein umfassenderes Bild der Situationen, sondern sorgt auch für überzeugendes Bildmaterial. Während die Ruinen Detroits für einige Besucher einfach nur ?Ruin Porn? sind, stehen sie für die Betroffenen selbst ein Symbol für den Niedergang einer Stadt und vor allem ihren eigenen, persönlichen Abstieg.
WE ARE ALL DETROIT dokumentiert Arbeit ganz plastisch als Identitätsstifter, als die bewusste, schöpferische Auseinandersetzung dieser Menschen mit ihrer Umwelt und demonstriert, was passiert, wenn diese Arbeit plötzlich fehlt. Sowohl in Bochum als auch in Detroit verweisen die Ansprechpartner mit Stolz auf ihre einstige Tätigkeit, auf ihr Arbeitsumfeld und die Mitarbeiter, die über die Jahre zur zweiten Familie geworden sind. WE ARE ALL DETROIT erfasst dies alles in ganz unaufdringlicher Bildsprache, lässt die Zuschauer teilhaben an den Erfahrungen der Akteure und diese selbstreflexiv auf die eigene Situation anwenden.
Darüber hinaus weist WE ARE ALL DETROIT aber auch auf die unterschiedlichen Lösungskonzepte hin, die Detroit und Bochum für sich erproben, um sich vor der wirtschaftlichen Katastrophe zu retten. Und hier zeigen sich Kontraste. Während in den USA versucht wird, neues Leben in alten Räumen zu unterzubringen, setzt Bochum auf ein Tabula Rasa, auf den flächendeckenden Abriss, um Raum für einen Neuanfang zu gewinnen. Welches Modell erstrebenswerter oder erfolgversprechender erscheint, darf der Zuschauer selbst ermitteln. Die einstigen Arbeitnehmer stehen natürlich auch hier im Vordergrund und mit ihnen ihre Versuche, Altes zu erhalten und Neues zu probieren.
Auch wenn die 118 Minuten Lauflänge der Jury ein kleines bisschen zu lang erscheinen, ist WE ARE ALL DETROIT ? VOM BLEIBEN UND VERSCHWINDEN eine inspirierende Dokumentation mit reichhaltigen Denkanstößen für Bürger und Politiker. Mehr noch: WE ARE ALL DETROIT ist eine hervorragend erzählte Geschichte von Kapitalismus und Marktwirtschaft, vom Verfall und (Wieder)Aufbau und vor allem von sympathischen und immer optimistisch in eine unbekannte Zukunft schauenden Protagonisten, der die Jury einstimmig das Prädikat ?besonders wertvoll? verliehen hat.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)