FBW-Bewertung: Ein ganzes Leben (2023)
Prädikat besonders wertvoll
Jurybegründung: Hans Steinbichler adaptiert Robert Seethalers Roman "Ein ganzes Leben" als tatsächlich großes Kino: Die Geschichte des Andreas Egger, der Zeit seines Lebens rund um das Tal verbringt, in dem er als Kind auf dem Berghof seines Onkels aufwuchs, erzählt Steinbichler vor großartig eingefangener Bergkulisse mit einer Vielzahl an überzeugenden Darstellern und einem wunderbar feinen Gespür für Atmosphäre. Was leicht hätte pathetisch geraten können mit unguten Anklängen an die kitschige Version des Heimatfilms, wird hier zum berührenden Epos über ein Leben, das sich als reich an Entbehrungen, aber auch reich an intensiven Erlebnissen erweist. Zugleich zeichnet der Film eine regionale Geschichte des 20. Jahrhunderts, innerhalb dessen sich die ökonomischen Lebensgrundlagen der Bergbauern radikal veränderten und modernisierten.Es ist der präzise Blick für Ort und Umgebung, der der Jury besonders gut gefiel. Nichts wirkt künstlich hinzugefügt oder zu stark digital bearbeitet ? die Bergwelt mit ihren einsamen Höhen und den sich transformierenden Siedlungen im Tal kommt als vollkommen organisch herüber, sie wird nicht zuletzt durch die Entwicklung von einem Ort der Armut und Entbehrung zu einem des blühenden Bergtourismus eine eigene Art von Protagonist der Geschichte. Der Plot verläuft anekdotenhaft und in Zeitsprüngen, das Schicksal von einzelnen Figuren wird angeschnitten und scheinbar fallengelassen, nur um später doch wieder aufzutauchen. Diese Erzählweise verstärkt das mehr auf sinnliche Eindrücke denn auf Dialoge setzende Konzept des Films: Er versucht ein Erleben zu vermitteln, bei dem Naturkatastrophen, persönliche Tragödien und passives Teilhaben an Zeitgeschichte genau das formen, was der Titel besagt: ein ganzes Leben.
Das paradoxe Fazit des Romans, dass Andreas Egger trotz erlittener Schicksalsschläge und einem von relativer Armut und harter körperlicher Arbeit geprägten Alltag sein Leben zuletzt als reich empfindet, macht der Film auf wunderbare Weise nachvollziehbar. Das ist der großartigen Kameraarbeit (Armin Franzen) zu verdanken, die die Bergwelt in beeindruckenden Panoramen einfängt, ohne das Stereotyp ?Bergfilm? zu bedienen, aber auch den Darstellern, angefangen von Stefan Gorski und August Zirner, die den verschlossenen Andreas Egger in verschiedenen Lebensaltern verkörpern, über Andreas Lust als übermäßig strenger und ausbeutender Onkel bis hin zu Robert Stadlober und Thomas Schubert, die als Nebenfiguren eigene Seitenstränge der Handlung prägen. Hans Steinbichler ist nach Meinung der Jury ein Film gelungen, der nicht nur den Stoff der Vorlage hervorragend adaptiert, sondern selbst auch dessen Haltung wiedergibt. EIN GANZES LEBEN zeigt, wie Andreas als Kind geschlagen und ausgebeutet wird, wie er sich trotz alledem wie aus dem Nichts ein eigenes, selbstgenügsames Leben aufbaut und seine große Liebe findet, und wie ihm das wiederum genommen wird, ohne Beschönigungen und ohne Sentimentalität, aber doch immer mit einer Sensibilität, die Einfühlung möglich macht. Die Jury vergibt sehr gerne das Prädikat BESONDERS WERTVOLL.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)