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FBW-Bewertung: Belfast (2021)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Die intensivsten Erinnerungen haben wir alle an die eigene Kindheit, und hier liegen auch die stärksten Quellen für unsere Fantasien. Große Filmemacher wie Fellini, Bergman, Woody Allen und John Boorman haben Filme gemacht, die auf ihren Kindheitserinnerungen basieren, und sie zählen zu ihren besten und schönsten. In diese Reihe fügt sich nun Kenneth Branagh ein, der in BELFAST von seiner Kindheit im Nordirland der späten 1960er Jahre erzählt. In dieser Zeit begannen die ?troubles?, also die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den nordirischen Katholiken und Protestanten. Dies war eine düstere Zeit voller Verletzungen und Ungerechtigkeiten. Und so wurden und werden von dieser Ära in den erzählerischen Künsten fast immer deprimierende Werke voller Verzweiflung und Wut geschaffen. Kenneth Branagh gelingt es dagegen, in BELFAST den hoffnungsvollen Blick heraufzubeschwören, den ein Neunjähriger auf seine Welt hat. Branaghs Alter Ego Buddy wohnt mit seinen Eltern und Großeltern in einer Straße von Belfast, in der Katholiken und Protestanten friedlich miteinander leben. Sie verbindet ihre irische Kultur mehr als ihre Religionen sie trennen, und am Anfang des Films feiert Branagh diese Gemeinschaft der Nachbarn mit einem idyllischen Blick auf das lebendige Miteinander, das sich auch in der Straße selber abspielt. Doch dann marschieren plötzlich protestantische Provokateure in die Straße ein, greifen die katholischen Bewohner an und von diesem Moment an leben Buddy, seine Familie und ihre Nachbarn unter Belagerung. Branagh erzählt die Geschichte konsequent aus der Perspektive des Neunjährigen, und diese Sicht auf die Welt stellt er in schwarzweißen Bildern dar. Dabei arbeitet er aber auch sehr geschickt mit dem Kontrast mit farbigen Bildern. Der Film beginnt und endet mit farbigen Panoramabildern vom heutigen Belfast. Interessanter ist aber, dass Branagh immer dann zur Farbe wechselt, wenn er Bilder aus Filmen zeigt, die der filmbegeisterte Buddy im Kino sieht. Hier zeigt Branagh, wie groß die eskapistische Wirkung des Kinos für ihn und viele andere war ? und dies ist natürlich auch ein eleganter Hinweis darauf, dass hier ein zukünftiger Filmemacher von seiner Kindheit erzählt. Branagh gelingt es, ein komplexes und liebevolles Porträt von Buddys Familie zu zeichnen. Seine Mutter kämpft, wenn nötig, mit dem Ritterschild (Mülleimerdeckel) ihres Sohnes für ihre Familie, der Vater ist oft nicht da, weil er in England Geld verdienen muss, und von den Großeltern lernt Buddy unorthodoxe Lektionen für das Leben. All diese Charaktere werden von grandiosen irisch/britischen Darsteller*innen verkörpert, denen eine der besten Ensembleleistungen im Kino der letzten Jahre gelingt. Und mit Jude Hill hat Branagh einen dieser jungen Darsteller gefunden und geführt, die noch so unmittelbar und natürlich spielen können, dass man schon nach den ersten Minuten des Films die Welt mit ihren Augen sieht. Wegen dieser Perspektive wirkt es auch ganz natürlich, wie Branagh hier fast immer zugleich traurig und komisch erzählen kann. Bei einer Plünderungsszene, die eine Katastrophe für Buddys Familie bedeutet, hält dieser die ganz Zeit eine von ihm geklaute Packung Omo umklammert, und so wirkt dieses Sequenz zwar apokalyptisch, aber eben auch ein wenig absurd aufgrund dieses alltäglichen Gegenstands, der für Buddy aber in diesem Moment so wichtig erscheint. Gekonnt orchestriert Branagh immer die Stimmungen des Films. Und der Schmerz wird dabei durch das Lachen noch intensiver spürbar. Sowohl elegisch wie auch hymnisch ist auch die Musik von Van Morrison, die wunderbar das Lebensgefühl der Zeit und des Ortes einfängt und von Branagh in präzise ausgemessenen Dosen eingesetzt wird. Mit Musik gelingt es Branagh auch, BELFAST endgültig zu einem Liebeslied an die Stadt, ihre Bewohner und Buddys (und damit im Grunde auch seiner Familie) werden zu lassen. Bei einer Feier, kurz bevor Buddy mit seinen Eltern Belfast verlässt, singt sein Vater das Lied ?Everlasting Love?, mit dem die britische Band ?Love Affair? Ende der 1960er Jahre einen großen Erfolg hatte. Diese Sequenz ist wie eine Musicalnummer inszeniert, fügt sich aber, weil sie sowohl dramaturgisch wie auch emotional perfekt passt, nahtlos in den Film ein. Mit BELFAST ist Branagh ein großer Wurf gelungen: ein mitreißender, wahrhaftiger Film, bei dem Branagh seine Virtuosität nie ausstellt, sondern sie immer so einsetzt, dass diese Geschichte so intensiv und lebendig wie möglich erzählt wird.



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