Der vermessene Mensch (2021)
In seinem neuen Historiendrama blickt der Regisseur Lars Kraume auf ein dunkles Kapitel deutscher Kolonialgeschichte: den Völkermord an den Herero und Nama.Kritiker-Film-Bewertung:User-Film-Bewertung :
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Berlin 1896: Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) studiert Ethnologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Als Doktorand bei Professor von Waldstätten (Peter Simonischek) assistiert er diesem nicht nur bei dessen Vorlesungen, gemeinsam mit seinen Mitstudenten soll Hoffmann auch die Köpfe von Menschen aus den deutschen Kolonien vermessen. Die Reisegruppe um den Königssohn Friedrich Maharero (Anton Paulus) ist anlässlich der "Deutschen Kolonial-Ausstellung" zu Gast und sichtlich irritiert. Statt wie erwartet eine Audienz beim Kaiser zu erhalten, müssen sie in Stammeskleidung schlüpfen, um, dem Bild des "Wilden" entsprechend, zur Schau gestellt zur werden. Über die Dolmetscherin Kezia Kambazembi (Girley Jazama) tritt Hoffmann mit der afrikanischen Delegation in Kontakt und muss sein vorgefertigtes, von der Rassentheorie geprägtes Bild der westlichen Überlegenheit alsbald ad acta legen. Eine von ihm darüber verfasste Schrift wird jedoch nicht publiziert.
Deutsch-Südwestafrika 1904: Die Herero und Nama begehren gegen die Unterdrückung durch ihre Kolonialherren auf. Hoffmann meldet sich freiwillig für eine Expedition dorthin. Im Schutze der kaiserlichen Armee unter dem Oberbefehl von General Lothar von Trotha (Alexander Radszun) und unter dem Kommando von Oberleutnant Wolf von Crensky (Sven Schelker) sammelt der Ethnologe für das Berliner Völkerkundemuseum Artefakte und Kunstgegenstände ein, die die Herero und Nama auf der Flucht vor den Deutschen zurücklassen. Dabei wird er nicht nur Zeuge unbeschreiblicher Gräueltaten, die in einen Völkermord münden, sondern macht sich auch selbst schuldig. Im Auftrag seines Professors schreckt Hoffmann vor Grabschändungen nicht zurück. Was ihn dabei vorantreibt, ist die Hoffnung, Kezia wiederzubegegnen.
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Filmkritik
"Der vermessene Mensch": Heikles Historiendrama
Lars Kraume ist ein Regisseur, der vor historisch heiklen und komplexen Stoffen nicht zurückschreckt. In "Der Staat gegen Fritz Bauer" (2015) erzählte er, wie der titelgebende Frankfurter Generalstaatsanwalt Ende der 1950er-Jahre versucht, den NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann aufzuspüren und auf welche Widerstände Bauer dabei stößt. "Das schweigende Klassenzimmer" (2017) handelte von einer Schulklasse aus der DDR, die ihre Solidarität mit dem Ungarischen Volksaufstand 1956 bekundet und dafür die Konsequenzen zu spüren bekommt. In "Der vermessene Mensch" geht Kraume nun noch weiter in der Historie zurück und widmet sich einem nicht weniger dunklen Kapitel deutscher Geschichte, das in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin unterrepräsentiert ist.
Die Frage der Herkunft
Was die deutsche Vergangenheitsbewältigung anbelangt, musste sich die hiesige Kolonialgeschichte meist hintanstellen. Der Erste, vor allem aber der Zweite Weltkrieg mit seinen abscheulichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit stehen stets mehr im Fokus – egal, ob im Geschichtsunterricht oder in der Verarbeitung in Literatur, Film und Fernsehen. Seit einigen Jahren und spätestens mit der Errichtung und Eröffnung des Berliner Humboldt Forums, das unter anderem auch Exponate aus der deutschen Kolonialzeit beherbergt, deren Provenienz in Teilen bis heute nicht restlos geklärt ist, kommt dem Thema jedoch mehr Aufmerksamkeit zu. Debatten werden geführt, Diskussionsräume eröffnet, Leerstellen langsam gefüllt. Lars Kraumes Historiendrama "Der vermessene Mensch" bietet sich geradezu als weiterer Debattenbeitrag an.
Kraumes Film basiert auf dem Roman "Morenga" des Schriftstellers Uwe Timm. Timms Vorlage stammt aus dem Jahr 1978 und wurde bereits 1983/84 unter gleichem Titel von Egon Günther (1927–2017) als Dreiteiler fürs deutsche Fernsehen verfilmt und dort im März 1985 ausgestrahlt. Warum im Anschluss daran nicht mehr Werke über die deutsche Kolonialvergangenheit entstanden sind, ist vielsagend. Ebenso, dass den Roman und dessen Erstverfilmung kaum jemand kennt.
Akademisch gedeckte Entmenschlichung
Im Vergleich zu Timms Vorlage und dessen TV-Adaption nimmt der Kinofilm einige Änderungen vor. Kraume, der auch das Drehbuch zu "Der vermessene Mensch" geschrieben hat und in regem Kontakt mit Timm stand, ändert die Profession des Protagonisten. Aus dem Veterinär Gottschalk wird der Ethnologe Hoffmann. Das ermöglicht Kraume einerseits, auch auf aktuell geführte Diskussionen wie die bereits erwähnten Kunstraube und Grabschändungen einzugehen und andererseits, eine Brücke zu den Opfern des Völkermords zu schlagen. Als Ethnologe tritt der von Leonard Scheicher mit leisem Nachdruck gespielte Alexander Hoffmann bereits im ersten Akt mit der Delegation um Friedrich Maharero (Anton Paulus) und Kezia Kambazembi (Girley Jazama) in Kontakt. Hoffmanns Neugier folgend, macht der Film unmissverständlich klar, dass Rassentheorien nichts als Pseudowissenschaften sind. Mehr noch: Die vollkommene Objektifizierung und Entmenschlichung solcher Methoden kommen gleichermaßen anschaulich wie berührend zum Vorschein.
Der Blick des Films durch Alexander Hoffmanns Augen ist dabei Stärke und Schwäche zugleich. Der anfangs noch idealistische, mitunter von der eigenen Faszination für alles ihm Fremde verblendete und dadurch naiv agierende junge Mann nimmt das Kinopublikum an der Hand. Kezia Kambazembis Perspektive, also die Sicht ebenjener Frau, die zu Beginn als ebenbürtiger Gegenpol zu Hoffmann eingeführt wird, geht dadurch verloren. Als der Ethnologe, äußerlich inzwischen an einen abgehalfterten Indiana Jones gemahnend, sie spät im Film wiedertrifft, ist sie nurmehr eine äußere Hülle. Alles in ihr ist abgestorben und Hoffmann durch diesen Anblick endgültig ein gebrochener Mann.
Kaum schwarze Perspektiven, aber auch keine weißen Retter
Den Film durch seine Augen und nicht durch die Augen Kezia Kambazembis zu erzählen ist nachvollziehbar, aber ein Stück weit auch eine vertane Chance – nicht zuletzt deshalb, weil Girley Jazama in den wenigen Auftritten, die sie hat, das Kinopublikum für sich einnimmt. Immerhin tappt Kraume nicht in die Falle, aus seiner Hauptfigur einen white savior, das Stereotyp eines weißen Retters zu machen. In diesem Film gibt es keine Helden. Der Protagonist aus "Der vermessene Mensch" sieht den an Originalschauplätzen im heutigen Namibia gefilmten Gräueltaten zunächst machtlos, später tatenlos zu. Am Ende hat er nicht nur die Köpfe anderer Menschen vermessen, sondern ist selbst zu einem vermessenen Menschen geworden.
Fazit: Lars Kraumes neues Historiendrama füllt eine Leerstelle. Durch die Augen eines deutschen Ethnologen erzählt, entführt uns der Regisseur von Filmen wie "Der Staat gegen Fritz Bauer" und "Das schweigende Klassenzimmer" an die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sein mit langem Atem erzählter, bestechend fotografierter und an Originalschauplätzen in Namibia gedrehter Film erinnert eindrücklich an den von der deutschen Kolonialmacht begangenen Völkermord an den Herero und Nama.
Lars Kraume ist ein Regisseur, der vor historisch heiklen und komplexen Stoffen nicht zurückschreckt. In "Der Staat gegen Fritz Bauer" (2015) erzählte er, wie der titelgebende Frankfurter Generalstaatsanwalt Ende der 1950er-Jahre versucht, den NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann aufzuspüren und auf welche Widerstände Bauer dabei stößt. "Das schweigende Klassenzimmer" (2017) handelte von einer Schulklasse aus der DDR, die ihre Solidarität mit dem Ungarischen Volksaufstand 1956 bekundet und dafür die Konsequenzen zu spüren bekommt. In "Der vermessene Mensch" geht Kraume nun noch weiter in der Historie zurück und widmet sich einem nicht weniger dunklen Kapitel deutscher Geschichte, das in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin unterrepräsentiert ist.
Die Frage der Herkunft
Was die deutsche Vergangenheitsbewältigung anbelangt, musste sich die hiesige Kolonialgeschichte meist hintanstellen. Der Erste, vor allem aber der Zweite Weltkrieg mit seinen abscheulichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit stehen stets mehr im Fokus – egal, ob im Geschichtsunterricht oder in der Verarbeitung in Literatur, Film und Fernsehen. Seit einigen Jahren und spätestens mit der Errichtung und Eröffnung des Berliner Humboldt Forums, das unter anderem auch Exponate aus der deutschen Kolonialzeit beherbergt, deren Provenienz in Teilen bis heute nicht restlos geklärt ist, kommt dem Thema jedoch mehr Aufmerksamkeit zu. Debatten werden geführt, Diskussionsräume eröffnet, Leerstellen langsam gefüllt. Lars Kraumes Historiendrama "Der vermessene Mensch" bietet sich geradezu als weiterer Debattenbeitrag an.
Kraumes Film basiert auf dem Roman "Morenga" des Schriftstellers Uwe Timm. Timms Vorlage stammt aus dem Jahr 1978 und wurde bereits 1983/84 unter gleichem Titel von Egon Günther (1927–2017) als Dreiteiler fürs deutsche Fernsehen verfilmt und dort im März 1985 ausgestrahlt. Warum im Anschluss daran nicht mehr Werke über die deutsche Kolonialvergangenheit entstanden sind, ist vielsagend. Ebenso, dass den Roman und dessen Erstverfilmung kaum jemand kennt.
Akademisch gedeckte Entmenschlichung
Im Vergleich zu Timms Vorlage und dessen TV-Adaption nimmt der Kinofilm einige Änderungen vor. Kraume, der auch das Drehbuch zu "Der vermessene Mensch" geschrieben hat und in regem Kontakt mit Timm stand, ändert die Profession des Protagonisten. Aus dem Veterinär Gottschalk wird der Ethnologe Hoffmann. Das ermöglicht Kraume einerseits, auch auf aktuell geführte Diskussionen wie die bereits erwähnten Kunstraube und Grabschändungen einzugehen und andererseits, eine Brücke zu den Opfern des Völkermords zu schlagen. Als Ethnologe tritt der von Leonard Scheicher mit leisem Nachdruck gespielte Alexander Hoffmann bereits im ersten Akt mit der Delegation um Friedrich Maharero (Anton Paulus) und Kezia Kambazembi (Girley Jazama) in Kontakt. Hoffmanns Neugier folgend, macht der Film unmissverständlich klar, dass Rassentheorien nichts als Pseudowissenschaften sind. Mehr noch: Die vollkommene Objektifizierung und Entmenschlichung solcher Methoden kommen gleichermaßen anschaulich wie berührend zum Vorschein.
Der Blick des Films durch Alexander Hoffmanns Augen ist dabei Stärke und Schwäche zugleich. Der anfangs noch idealistische, mitunter von der eigenen Faszination für alles ihm Fremde verblendete und dadurch naiv agierende junge Mann nimmt das Kinopublikum an der Hand. Kezia Kambazembis Perspektive, also die Sicht ebenjener Frau, die zu Beginn als ebenbürtiger Gegenpol zu Hoffmann eingeführt wird, geht dadurch verloren. Als der Ethnologe, äußerlich inzwischen an einen abgehalfterten Indiana Jones gemahnend, sie spät im Film wiedertrifft, ist sie nurmehr eine äußere Hülle. Alles in ihr ist abgestorben und Hoffmann durch diesen Anblick endgültig ein gebrochener Mann.
Kaum schwarze Perspektiven, aber auch keine weißen Retter
Den Film durch seine Augen und nicht durch die Augen Kezia Kambazembis zu erzählen ist nachvollziehbar, aber ein Stück weit auch eine vertane Chance – nicht zuletzt deshalb, weil Girley Jazama in den wenigen Auftritten, die sie hat, das Kinopublikum für sich einnimmt. Immerhin tappt Kraume nicht in die Falle, aus seiner Hauptfigur einen white savior, das Stereotyp eines weißen Retters zu machen. In diesem Film gibt es keine Helden. Der Protagonist aus "Der vermessene Mensch" sieht den an Originalschauplätzen im heutigen Namibia gefilmten Gräueltaten zunächst machtlos, später tatenlos zu. Am Ende hat er nicht nur die Köpfe anderer Menschen vermessen, sondern ist selbst zu einem vermessenen Menschen geworden.
Fazit: Lars Kraumes neues Historiendrama füllt eine Leerstelle. Durch die Augen eines deutschen Ethnologen erzählt, entführt uns der Regisseur von Filmen wie "Der Staat gegen Fritz Bauer" und "Das schweigende Klassenzimmer" an die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sein mit langem Atem erzählter, bestechend fotografierter und an Originalschauplätzen in Namibia gedrehter Film erinnert eindrücklich an den von der deutschen Kolonialmacht begangenen Völkermord an den Herero und Nama.
Falk Straub
FBW-Bewertung zu "Der vermessene Mensch"Jurybegründung anzeigen
Die Jury hat sich gleich zu Beginn der Diskussion mit der Frage beschäftigt, inwieweit der Blickwinkel auf die deutsche Kolonialzeit mit ihren Verbrechen unter heutigen Gesichtspunkten angemessen sein kann. Hierzu gab es eine große [...mehr]TrailerAlle "Der vermessene Mensch"-Trailer anzeigen
Besetzung & Crew von "Der vermessene Mensch"
Land: Deutschland, NamibiaWeitere Titel: Ein Platz an der Sonne
Jahr: 2021
Genre: Drama
Länge: 116 Minuten
FSK: 12
Kinostart: 23.03.2023
Regie: Lars Kraume
Darsteller: Leonard Scheicher als Alexander Hoffmann, Girley Jazama als Kezia Kambazembi, Peter Simonischek
Verleih: Studiocanal