FBW-Bewertung: Eingeschlossene Gesellschaft (2021)
Prädikat wertvoll
Jurybegründung: Schlechte Schulerfahrungen hat wohl jeder irgendwann einmal gemacht, aber Regisseur Sönke Wortmann und auch sein Drehbuchautor Jan Weiler scheinen besonders schlechte gesammelt zu haben.An einem Freitagnachmittag klopft es an die Tür zum Lehrerzimmer des fiktiven, nordrhein-westfälischen Rudi-Dutschke-Gymnasiums. Der Vater eines Schülers will sich für die Abi-Zulassung seines Sohnes einsetzen. Dem fehlt nämlich nur ein Punkt zum Glück und diesen Punkt will der Vater notfalls auch mit Gewalt einfordern. Die sechs noch im Hause befindlichen Lehrer fühlen sich dem Vater anfangs überlegen. Die notwendige sittliche Reife scheint dem Schüler tatsächlich zu fehlen. Des Vaters Nerven aber liegen blank, eine Waffe kommt ins Spiel und daraufhin eine Diskussion, die menschliche Abgründe innerhalb der Lehrerschaft preisgibt. Letztendlich müssen sich die sechs Kollegen fragen, wem die sittliche Reife wirklich fehlt.
Insgesamt besticht EINGESCHLOSSENE GESELLSCHAFT als erstaunliche Ensembleleistung. Die Schauspieler interagieren präzise, bzw. beeindruckend synchron und auch die Dialoge erweisen sich nach Ansicht der Jury als in sich geschlossen. Doch, wie selten ein Film, hat EINGESCHLOSSENE GESELLSCHAFT in der Diskussion gezeigt, wie individuell unterschiedlich ein Film verstanden und letztlich auch gewertet werden kann.
Auch wenn EINGESCHLOSSENE GESELLSCHAFT ein wenig wie die Fortsetzung von FRAU MÜLLER MUSS WEG wirkt, sieht die Jury in Sönke Wortmanns neuem Film mehr Kammerspiel als Komödie. Tatsächlich hat Wortmann das Setting, bis auf wenige Ausnahmen, innerhalb der Mauern eines typischen Lehrerzimmers verlegt. Reihen von Buchregalen, diverse Schreibtische, eingefasst von den roten Backsteinen eines typischen 1980er Jahre-Baus. Hier werden sechs Vertreter des Lehrkörpers vom Vater gefangen gehalten. Der mehr als konservative Altsprachler Klaus Engelhardt, der beliebte Sportlehrer Peter Mertens, Schülerversteher Holger Arndt, die altjüngerferliche Heidi Lohmann, der allseits isoliert-dastehende Chemielehrer Bernd Vogel und die Referendarin Sarah Schuster, die als einzige noch Ideale zu haben scheint.
Sechs beherzt karikierte Persönlichkeiten, von denen zwei seitens der Jury allerdings ziemlich divergent bewertet wurden. In der Tat zeigte sich in der Diskussion, dass die von Anke Engelke gespielte Lehrerin Lohmann und der von Justus von Dohnányi gespielte Lateinlehrer Engelhardt erstaunlich unterschiedlich gesehen wurden. Darstellungen, die für den einen Teil der Jury durchaus noch im Toleranzbereich liegen, erscheinen dem anderen ein wenig zu antiquiert. Und tatsächlich wirkt auch die mit Thorsten Merten besetzte Figur des erregten Vaters ein wenig aus der Zeit gefallen. Scheint sie doch, bekleidet mit Schiebermütze, beigem Vorarbeiter-Blouson und himmelblauer Krawatte, der Figur eines Adolf Tegtmeyers näher zu stehen als der eines Vaters von heute.
Ähnliche Unterschiede in der Bewertung zeigen sich während der intensiv geführten Diskussion auch in der Einschätzung des Polizeieinsatzes. Während ein Teil der Jury diesen Part als ein wenig inkonsequent und dadurch auch unplausibel wertet, da er das gut gewählte Kammerspiel-Setting für derbe Slapstick-Einlagen verlässt, ergeben die Außenaufnahmen für den anderen Teil der Jury erst genau die Bilder, die eine spannende Geschichte zu erzählen vermögen. In diesem Sinn wertet die Jury auch einige der gezeigten Konfliktlinien als kontraproduktiv, etwa dann, wenn die Meinung der Lehrerin Heidi Lohmann, dass alle jungen Frauen Huren seien, als belustigende Aussage krachend in den Vordergrund geschoben wird.
Trotz dieser Einschränkungen vermag die Jury den durchaus gesellschaftskritischen Gehalt von EINGESCHLOSSENE GESELLSCHAFT anzuerkennen, zumal sich der zugrunde gelegte Sachverhalt nicht ausschließlich auf schulische Begebenheiten beschränken muss, sondern überall dort von einer gesamtgesellschaftlichen Tragweite ist, wo eine nicht hinterfragte Gemeinschaft über das Schicksal von Außenstehenden entscheiden darf. Nach durchaus intensiver Diskussion und in Anerkennung aller Qualitäten des Films entschließt sich die Jury, das Prädikat ?wertvoll? zu vergeben.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)