Sommer der Krüppelbewegung (2021)
Crip Camp
Der lange Sommer der Inklusion: US-Dokumentarfilm über den Kampf für Gleichberechtigung, der während eines Ferienlagers begann.Kritiker-Film-Bewertung:User-Film-Bewertung :
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Für die Gleichberechtigung von Menschen mit Handicap war es ein weiter Weg, auf dem die Betroffenen meist nur mühsam vorankamen, wenn sie in einem Rollstuhl saßen. Denn überall standen Hindernisse. Erst 1990 wurde der Americans with Disabilities Act (ADA) verabschiedet, ein Gesetz, das nicht nur Diskriminierung von Menschen mit Behinderung verbietet, sondern ihnen auch Barrierefreiheit garantieren soll. Dass dieses Gesetz überhaupt verabschiedet wurde, ist Aktivistinnen wie Judith Heumann zu verdanken, die unermüdlich und mit beispiellosen Aktionen auf ihre Situation aufmerksam gemacht haben.
Viele der Aktivisten kannten sich bereits. Sie verbrachten den Sommer 1971 in Camp Jened, einer 1951 gegründeten Jugendfreizeit für Menschen mit Behinderung in den Catskill Mountains im Bundesstaat New York. Nur einen Steinwurf von Woodstock entfernt wurden in jenem Sommer Beziehungen geknüpft, die einige Jahre später im Center for Independent Living im kalifornischen Berkeley wieder aufgenommen wurden und schließlich im Disability rights movement, der US-amerikanischen Behindertenbewegung, mündeten. Davon erzählt dieser Dokumentarfilm. Sein Regisseur James LeBrecht war als 15-Jähriger selbst im Sommercamp dabei. Gemeinsam mit seiner Co-Regisseurin Nicole Newnham zeichnet er den langen Weg von der Ferienfreizeit bis in die Gegenwart nach.
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Filmkritik
Die ersten Minuten dieses Dokumentarfilms gehören seinem Co-Regisseur. Ein alter Fernsehbeitrag zeigt James LeBrecht bei seiner Arbeit als Tontechniker in einem Theater im kalifornischen Berkeley. Obwohl LeBrecht mit einer Spaltung der Wirbelsäule geboren wurde und seine Beine nicht bewegen kann, bewegt er sich flink durchs Gebäude, erklimmt scheinbar mühelos Treppen und hangelt sich eine Leiter zur Beleuchterbrücke hinauf. Aufnahmen aus dem Familienarchiv zeigen, dass ihn seine körperliche Einschränkung schon als Kind nicht aufhalten konnte. Er habe stets versucht, seine Behinderung zu überwinden, sagt LeBrecht. Dass das im Grunde die falsche Einstellung war, musste LeBrecht erst lernen. Dem Filmpublikum führt er vor, wie es richtig geht.
"Sommer der Krüppelbewegung" entführt sein Publikum in eine Zeit, in der (öffentliche) Gebäude, Schulen und der Verkehr noch nicht barrierefrei waren. (Viele sind es bis heute nicht; der Kampf geht also weiter.) Menschen mit körperlichem oder geistigem Handicap wurden dadurch ausgeschlossen, an den Rand gedrängt, gar in Heime abgeschoben und so für die breite Masse unsichtbar. Das Ferienlager, das diesem Film – übrigens auch im englischen Original, dort heißt die Doku "Crip Camp" – seinen bewusst provokant gewählten Titel gibt, ist für die Teilnehmenden eine Befreiung. Viele treffen zum ersten Mal auf andere Menschen mit Handicap. Niemand wird dafür komisch beäugt. Die Atmosphäre ist ausgelassen. Liebe und Cannabisduft liegen in der Luft.
LeBrecht, der nach seinem Engagement beim Theater zum Film wechselte, und seine Co-Regisseurin Nicole Newnham zeichnen den Kampf für Gleichberechtigung akribisch nach. Formal ist ihre Doku ganz klassisch aufgezogen. LeBrecht kommentiert aus dem Off und sitzt wie andere Weggefährten von damals als Interviewpartner vor der Kamera. Unterfüttert wird diese Rückschau mit tollen Archivaufnahmen, zum Teil vom seinerzeit 15-jährigen LeBrecht selbst gefilmt. Der Soundtrack der 68er-Bewegung untermalt die Bilder mit Aufbruchstimmung.
"Sommer der Krüppelbewegung" ist ein wichtiger Dokumentarfilm, weil er dem medialen Mosaik von den Bürgerrechtsbewegungen jener Jahre einen weiteren bunten Baustein hinzufügt. Ein Zeitdokument, das die Waage zwischen aufschlussreichen Fakten, augenzwinkernden Erinnerungen und berührenden Momenten hält. Der Protagonistin Denise Sherer Jacobson, die kein Blatt vor den Mund nimmt, gelingt es beispielsweise mehrfach persönliche Erfahrungen zugleich intim und humorvoll zu vermitteln.
Das Ende gehört dann nicht nur James LeBrecht, sondern all den anderen Aktivist*innen, die noch einmal am Ort ihres ersten Aufeinandertreffens zusammenkommen. LeBrecht hat inzwischen erkannt, dass es nicht darum geht, seine körperliche Einschränkung zu überwinden, sondern diese als einen Teil seiner selbst zu akzeptieren. Nicht er muss sich einer Gesellschaft anpassen, die auf Menschen ohne Handicap ausgerichtet ist, die Gesellschaft muss sich so verändern, dass sie allen Menschen offensteht.
Fazit: "Sommer der Krüppelbewegung" ist ein konventionell inszenierter, dafür aber ebenso aufschlussreicher wie berührender wie wichtiger Dokumentarfilm. Der Kampf für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung muss in demokratischen Gesellschaften jeden Tag neu ausgefochten werden. Dieses Zeitdokument wirft ein Schlaglicht auf die US-amerikanische Behindertenbewegung, die gezeigt hat, wie es gehen kann.
"Sommer der Krüppelbewegung" entführt sein Publikum in eine Zeit, in der (öffentliche) Gebäude, Schulen und der Verkehr noch nicht barrierefrei waren. (Viele sind es bis heute nicht; der Kampf geht also weiter.) Menschen mit körperlichem oder geistigem Handicap wurden dadurch ausgeschlossen, an den Rand gedrängt, gar in Heime abgeschoben und so für die breite Masse unsichtbar. Das Ferienlager, das diesem Film – übrigens auch im englischen Original, dort heißt die Doku "Crip Camp" – seinen bewusst provokant gewählten Titel gibt, ist für die Teilnehmenden eine Befreiung. Viele treffen zum ersten Mal auf andere Menschen mit Handicap. Niemand wird dafür komisch beäugt. Die Atmosphäre ist ausgelassen. Liebe und Cannabisduft liegen in der Luft.
LeBrecht, der nach seinem Engagement beim Theater zum Film wechselte, und seine Co-Regisseurin Nicole Newnham zeichnen den Kampf für Gleichberechtigung akribisch nach. Formal ist ihre Doku ganz klassisch aufgezogen. LeBrecht kommentiert aus dem Off und sitzt wie andere Weggefährten von damals als Interviewpartner vor der Kamera. Unterfüttert wird diese Rückschau mit tollen Archivaufnahmen, zum Teil vom seinerzeit 15-jährigen LeBrecht selbst gefilmt. Der Soundtrack der 68er-Bewegung untermalt die Bilder mit Aufbruchstimmung.
"Sommer der Krüppelbewegung" ist ein wichtiger Dokumentarfilm, weil er dem medialen Mosaik von den Bürgerrechtsbewegungen jener Jahre einen weiteren bunten Baustein hinzufügt. Ein Zeitdokument, das die Waage zwischen aufschlussreichen Fakten, augenzwinkernden Erinnerungen und berührenden Momenten hält. Der Protagonistin Denise Sherer Jacobson, die kein Blatt vor den Mund nimmt, gelingt es beispielsweise mehrfach persönliche Erfahrungen zugleich intim und humorvoll zu vermitteln.
Das Ende gehört dann nicht nur James LeBrecht, sondern all den anderen Aktivist*innen, die noch einmal am Ort ihres ersten Aufeinandertreffens zusammenkommen. LeBrecht hat inzwischen erkannt, dass es nicht darum geht, seine körperliche Einschränkung zu überwinden, sondern diese als einen Teil seiner selbst zu akzeptieren. Nicht er muss sich einer Gesellschaft anpassen, die auf Menschen ohne Handicap ausgerichtet ist, die Gesellschaft muss sich so verändern, dass sie allen Menschen offensteht.
Fazit: "Sommer der Krüppelbewegung" ist ein konventionell inszenierter, dafür aber ebenso aufschlussreicher wie berührender wie wichtiger Dokumentarfilm. Der Kampf für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung muss in demokratischen Gesellschaften jeden Tag neu ausgefochten werden. Dieses Zeitdokument wirft ein Schlaglicht auf die US-amerikanische Behindertenbewegung, die gezeigt hat, wie es gehen kann.
Falk Straub
Besetzung & Crew von "Sommer der Krüppelbewegung"
Land: USAJahr: 2021
Genre: Dokumentation
Originaltitel: Crip Camp
Länge: 106 Minuten
Regie: James LeBrecht, Nicole Newnham
Darsteller: James LeBrecht, Lionel Je'Woodyard, Joseph O'Conor, Ann Cupolo Freeman, Denise Sherer Jacobson
Kamera: Vicente Franco, Mario Furloni, Tom Kaufman, Justin Schein, Jon Shenk
Verleih: Netflix
Awards - Oscar 2021Weitere Infos
- Bester Dokumentarfilm - Nicole Newnham, Sara Bolder