FBW-Bewertung: Wir sind dann wohl die Angehörigen (2021)
Prädikat besonders wertvoll
Jurybegründung: Als Jan Philipp Reemtsma im März 1996 entführt wird, wird die Öffentlichkeit davon nicht unterrichtet. Die Hamburger Polizei hat ein Presseembargo verfügt, das tatsächlich auch eingehalten wird. Auch für Reemtsmas Familie wird die Entführung die schwierigste Zeit ihres Lebens werden. Abgeschnitten von der Außenwelt bleibt ihnen nur die Hoffnung, dass alle Bestrebungen erfolgreich sind, Ehemann und Vater wohlbehalten zurückzubekommen. Vor vier Jahren erschienen die Erinnerungen von Reemtsmas damals 13-jährigem Sohn Johann als Buch. Hans-Christian Schmids WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN ist die berührende Verfilmung des Buchs.Wie fühlt es sich an, wenn man nachts geweckt wird und dann von seiner Mutter erfährt, dass der Vater entführt wurde? - Wie erlebt man das Eintreffen der Polizei? Wie ist es wenn man mit niemandem über den Verlust des Vaters sprechen darf? - Johann Scheerer hat es mit 13 Jahren erleben müssen. So lang wie möglich versucht Schmids Film konsequent aus Sicht von Reemtsmas Sohn zu berichten. Selbsterklärend, dass dies ohne dramaturgische Probleme nicht über die vollen zwei Stunden Lauflänge erfolgen kann. Umso bemerkenswerter, dass sicher der Film hinsichtlich des Blickwinkels über lange Zeit, nämlich bis zur missglückten, ersten Lösegeldübergabe, treu bleibt. Aber auch in der Folge kehrt er immer wieder zum Erleben der Situation aus Perspektive des 13-jährigen Protagonisten zurück.
Dass WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN dennoch nicht an Spannung und Authentizität verliert ist nach Ansicht der Jury zum Einen der routinierten Regie geschuldet, genauso aber auch der fantastischen Besetzung des Johann mit dem 16-jährigen Claude Heinrich. Immer ein wenig neben der Spur, pubertierend in Gedanken versunken, um dann doch im entscheidenden Moment die richtigen Fragen zu stellen, einen dermaßen authentischen Eindruck hinterlassen nicht viele Schauspieler seines Alters. Insgesamt aber kann Schmid auf einen genauso guten, wie unverbrauchten Cast zurückgreifen. Bis auf Justus von Dohnányi, Enno Trebs und Hans Löw überrascht WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN mit selten gesehenen Talenten.
Äußerst interessant auch die Darstellung der Polizei, die im Hause Reemtsma Quartier bezieht. Zunächst noch Retter in der Not und Seelsorger zugleich wird sie zunehmend zum Eindringling, der gefährlich auf die Stimmung der Familie einwirkt. WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN ist ein Psychogramm einer unter äußersten Stress geratenen Familie. Der Film zeigt deutlich, dass nicht nur das Entführungsopfer gelitten hat, sondern auch sein familiäres Umfeld. Genauso aber ist der Film auch eine Coming-of-age-Geschichte, die von einem Erwachsenwerden unter schwierigsten Bedingungen berichtet. Immerhin lebt der heranwachsende Johann gut einen Monat lang rigider von der Außenwelt abgeschirmt, als die meisten Kinder unter Pandemiebestimmungen.
Immer wieder aber, so glaubt die Jury zu erkennen, ist der Film im Laufe der Produktion leider auch zum Wunschkonzert beteiligter Redaktionen geworden. Dort, wo sich der Mitsprachewille besonders der öffentlich-rechtlichen Filmförderer erkennen lässt, bremst er die dramaturgische Entfaltung des Films immer wieder aus. Das ist schade für diesen an sich spannend und gut gemachten Film. Dennoch freut sich die Jury nach einer intensiven Diskussion WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN mit dem Prädikat besonders wertvoll auszeichnen zu können.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)