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FBW-Bewertung: Wer wir waren (2020)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Ein Denker betrachtet die Probleme unserer Zeiten? aus der Zukunft heraus. Dieses Konzept des unvollendeten Essays von Roger Willemsen mit dem gleichen Titel inspirierte Marc Bauder zu seinem neuen Dokumentarfilm. Passagen aus Willemsens Text werden im Off mit sonorer Stimme vorgelesen, doch davon abgesehen nutzt Bauder den Text eher als den Rahmen und Resonanzkörper seines Films. Für diesen hat er sechs Wissenschaftler*innen danach befragt, wie sie sich die Zukunft der Menschheit vorstellen und welche Konflikte unbedingt gelöst werden müssen, damit wir überhaupt noch eine Zukunft haben. Dafür hat er Alexander Gerst eine Kamera in die ISS mitgegeben, und die damit gefilmten Aufnahmen von der Erde aus dem Weltall sowie dem Leben in der Schwerlosigkeit liefern die großen Schauwerte des Films. Doch ähnlich spektakulär sind die Bilder vom Grund der Tiefsee, die bei den Tauchgängen der Meeresbiologin Sylvia Earle entstanden. Sowohl von ganz oben wie auch von ganz unten wirkt die Erde majestätisch, doch Gerst und Earle machen auch deutlich, wie fragil ihr Zustand ist und wie zerstörerisch die Menschen mit dem ?einzigen Ort im Universum, wo Menschen leben können? (so Gerst) umgehen. Die Posthumanistin Janina Loh stehtdagegen am Anfang des Films an einem postapokalyptisch wirkenden Ort: einem verseuchten Strand bei Fukushima. Die Aufnahmen wurden vor dem Ausbruch der Corona-Epidemie gedreht. Doch sie trägt eine Atemmaske und diese Sequenz weckt inzwischen ganz andere Assoziationen, mit denen Marc Bauder höchstens bei der Montage des Films gerechnet haben kann. Bauder arbeitet gerne mit Kontrasten, und so hat er seine Protagonist*innen an möglichst unterschiedlichen Schauplätzen aufgenommen. Und es gelingt ihm zusammen mit seinem Kameramann Börres Weiffenbach, jeweils den Geist des Ortes einzufangen ?sei es in einem buddhistischen Kloster oder auf internationalen Meetings mit John Kerry und Angela Merkel. Der fließend assoziative Schnitt und die atmosphärisch reiche Filmmusik geben dem Film eine Ruhe, durch die er nie überladen wirkt, obwohl in ihm viel geredet wird. Oft werden die Protagonist*innen in Zwiegesprächen gezeigt, so macht Bauder auch stilistisch eine der Kernaussagen seines Films deutlich: dass nachhaltige positive Veränderungen nur über Austausch und Dialog möglich werden. WER WIR WAREN bietet ein sinnliches Kinoerlebnis und regt zugleich zum Nachdenken darüber an, wer wir sind.



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