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FBW-Bewertung: Freistaat Mittelpunkt (2019)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: FREISTAAT MITTELPUNKT ist in jeder Hinsicht ein ungewöhnlicher Film, sowohl was sein Thema als auch seine Form angeht. Es geht um einen Sonderling, und Regisseur Kai Ehlers hat einen Film gemacht, der auf sehr besondere Art und Weise diesem Menschen gerecht zu werden versucht. Ernst Otto Karl Grassmé war ein Opfer des Nationalsozialismus, man hat ihn als schizophren diagnostiziert, interniert und zwangssterilisiert. In der Bundesrepublik der Nachkriegszeit erlebte er nicht nur keinerlei Wiedergutmachung, sondern wurde weiter ausgegrenzt und von Behörden drangsaliert und missachtet. Ehlers erzählt jedoch von Grassmé nicht als Fallgeschichte, sondern ihm gelingt es, den Mann selbst vorzustellen, ihm eine Stimme zu verleihen, und damit dem Zuschauer einen Eindruck seines Charakters zu geben ? und das über 25 Jahre nach dessen Tod. Wer sich auf den Film einlässt, auf seine nicht ganz einfache Form, wird unmittelbar berührt daraus hervorgehen.

Ehlers arbeitet sehr konsequent und intuitiv mit einer Bild-Ton-Schere: Zu langen, oft in einer Einstellung gedrehten Aufnahmen eines scheinbar idyllischen Landlebens heute, von Waldwegen und flachen Äckern, lässt Ehlers aus dem Off Stellen aus Briefen von Grassmé vorlesen, die dieser der Tochter eines Nachbarn geschrieben hat. Der Tonfall der Briefe ist stets warmherzig, zugewandt, trotzdem wird nicht immer klar, um was es geht. Mit der Zeit jedoch lernt der Zuschauer die Dinge, von denen Grassmé schreibt, zuzuordnen und daraus das schwere Schicksal des von Euthanasie und Zwangssterilisation Betroffenen in Fragmenten zusammenzusetzen. Ohne je im eigentlichen Sinn zu illustrieren, evoziert Ehlers ein stimmungsvolles, geradezu sinnliches Porträt eines Mannes, der später als Eremit lebte, aber sich selbst dort noch immer wieder Einmischungen von Ämtern gefallen lassen musste.

Der Film nimmt sich Zeit für sein Porträt und macht es sich dabei nie einfach. Die assoziative Bildmontage, die wiederkehrend Szenen bäuerlichen Arbeitens oder auch einfach nur Natur zeigt, scheint zunächst ohne Verbindung zum Protagonisten, erweist sich aber mit der Zeit als effektvoll durchkomponierte Montage, die den Zuschauer emotional und kognitiv herausfordert und zu Überlegungen darüber anregt, was ein selbstbestimmtes Leben ist, und wie fehlgeleitet das "Ordnungsempfinden" manchmal sein kann, gerade wenn es um den Umgang mit jemandem geht, der ganz anders fühlt und denkt. Völlig nebenbei erzählt FREISTAAT MITTELPUNKT auch von der verhängnisvollen Kontinuität von Naziherrschaft zur Nachkriegsbundesrepublik in der behördlichen Behandlung von psychisch kranken Menschen.
Ehlers' Film berührt, weil es ihm gelingt, denjenigen, über den stets geurteilt wurde, hier selbst zu Wort kommen lassen, in all seiner Liebenswürdigkeit, seiner Schrägheit, seiner Harmlosigkeit und seiner Verzweiflung. Es ist ein schwieriger Film, der Geduld erfordert, sich aber unbedingt lohnt.



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