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FBW-Bewertung: In the Heights (2019)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Vor einer karibischen Strandbar erzählt der junge Usnavi staunenden Kindern ein Märchen: ?Es war einmal in einem fernen Land namens Washington Heights. Dort waren die Straßen aus Musik gemacht...? Damit entführt er auch uns Zuschauende in das New Yorker Stadtviertel an der Nordspitze Manhattans, das von jeher Heimstatt wurdefür Menschen aus aller Welt, die Glück oder Zuflucht suchten. Hier betreibt Usnavi an einer Straßenecke einen typischen New Yorker Gemischtwarenladen mit Kaffeeausschank, der einen Dreh- und Angelpunkt für die hispanische Bevölkerung des Viertels darstellt. Mit dem aufwändig choreografierten Titelsong ?In the Heights? stellt er sie uns rappend vor: seinen Cousin Sonny, einen ?Dreamer? mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus, der im Laden aushilft, die von Usnavi angehimmelte Kubanerin Vanessa, die im Schönheitssalon gegenüber jobbt und von einer Karriere als Modedesignerin träumt,den Taxiunternehmer Kevin Rosario, der alles dafür tut, um seiner Tochter Nina ein Studium an der Stanford-Universität zu ermöglichen, dessen Mitarbeiter Benny, der für Nina schwärmt, und natürlich Abuela Claudia, die vor langer Zeit aus Kuba kam und mangels eigener Familie das ganze Viertel adoptiert hat. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft halten zusammen, pflegen ihre Traditionen, kämpfen gegen Armut und soziale Ungerechtigkeiten, hoffen auf eine bessere Zukunft und träumen von der großen Liebe. Und alle bewegt die Frage: Sollen sie bleiben oder gehen, müssen sie der Gentrifizierung weichen, wollen sie den Aufstieg in einer anderen Umgebung schaffen, sollen sie das Glück in den Herkunftsländern ihrer Familien suchen? Wie unter dem Brennglas bündeln sich die Hoffnungen und Konflikte in einem heißen Sommer, als der Strom ausfällt und bekannt wird, dass auf jemanden im Viertel ein Lotteriegewinn von 96.000 Dollar wartet.

Nachdem Komponist und Songtexter Lin-Manuel Miranda mit seinem gleichnamigen Musical bereits am Broadway große Erfolge feiern konnte, bringt er die Geschichten der Latino-Community als Produzent nun dorthin zurück, wo sie ihren Ursprung haben: auf die Straßen von Washington Heights. Deren Rhythmus wird von Regisseur Jon M. Chu auf Grundlage eines Drehbuchs von Quiara Alegría Hudes kongenial eingefangen und mit einem herausragenden Cast, der fast ausschließlich aus Hispanics besteht, packend umgesetzt. Dabei hat man nicht auf Stars gesetzt, sondern auf die musikalischen und tänzerischen Fähigkeiten, so dass einige Newcomer mit der Darbietung ihrer Songs und Tanzeinlagen brillieren können, allen voran Anthony Ramos in der Rolle des Usnavi. Im Musical hatte Lin-Manuel Miranda noch selbst diese Rolle gespielt, in der Filmversion taucht er in einer kleinen Nebenrolle als Eisverkäufer auf. Das Herzstück bilden aber auch hier die von ihm geschriebenen Songs, die die ganze Bandbreite zwischen Salsa, Latin-Pop, Rap, Rhythm and Blues bedienen und absolut mitreißend sind ? oder so berührend wie das Stück ?Paciencia y Fe?, in dem Olga Merediz als Abuela Claudia am Ende ihres Lebens die Entbehrungen und Hoffnungen der Eingewanderten zum Ausdruck bringt.

Neben den Hauptrollen begeistern die weitüber 200 Tänzerinnen und Tänzer, die von Christopher Scott spektakulär choreografiert werden. Auf Straßenkreuzungen, Plätzen oder im Schwimmbad tanzen sie sich die Emotionen heraus in einem packenden Mix von Latin-Dance Klassikern, zeitgenössischem Ballett, diversen Street Styles und typischen Musicalklängen. Dabei gelingt es ihnen gar, die Schwerkraft aufzuheben, wenn sie an Häuserwänden emportanzen. Begeisternd sind die großen Sets, wie beim Song ?Carnaval Del Barrio?, bei dem die Beteiligten mit Flaggen und der speziellen Interpretation ihrer Songs die Musikstile ihres Herkunftsland repräsentieren, oder die Massenchoreografien, wie beim Song ?96.000?, bei dem Hunderte von Protagonist:innen in einem öffentlichen Freibad darüber sinnieren, was sie mit einem großen Lotteriegewinn anstellen würden. Das weckt Erinnerungen an die ornamentalen Inszenierungen von BusbyBerkeley. Aber der Tanz ergänzt hier nicht nur die Geschichte, sondern bringt die Handlung aktiv voran, wenn choreografierte Nummern in alltägliche Momente übergehen, in denen der Rhythmus aufgenommen wird und sich mit Alltagsgeräuschen vermischt. Die Bewegung bildet den roten Faden, der die Geschichte am Laufen hält, und die Kamera von Alice Brooks macht jede Bewegung mit.

Die Charaktere sind allesamt liebenswert und glaubhaft gestaltet. Das ist nicht ganz frei von Stereotypen und Klischees, die aber immer wieder augenzwinkernd gebrochen werden. Im Mittelpunkt der Handlung stehen zwei sympathische Liebesgeschichten: die von Benny und Nina und die von Usnavi und Vanessa. Anders als in?West Side Story? stehen ihnen keine Gang-Rivalitäten oder ethnische Gegensätze im Wege, dennoch dauert es einige Zeit, bis die Liebenden zusammenfinden. Hier geht es eher darum, wie die jungen Leute mit ihren Träumen und Hoffnungen bzw. denen ihrer Eltern zurechtkommen. Es sind die typischenAufstiegsträume von Familien mit Migrationshintergrund und die damit verbundenen Zweifel und Konflikte. Ninas Vater, der selbst keine Ausbildung absolvieren konnte, glaubt an den Aufstieg durch Bildung und ist sogar bereit, sein Taxi-Unternehmen verkaufen, um seiner Tochter das Studium an der renommierten Stanford Universität zu finanzieren. Diese hat an der Elite-Schmiede jedoch Ignoranz und Rassismus erfahren und fühlt sich fernab der angestammten Community isoliert und unsicher. Während das ganze Viertel stolz auf sie ist, weil sie es ?hinaus? geschafft hat, wird Nina selbst vom Skrupeln geplagt, weil sie sich von ihren Wurzeln entfernt hat. Vanessa dagegen ist überzeugt, dass sie ihre Zukunftspläne als Modedesignerin nur realisieren kann, wenn sie ihre Herkunft hinter sich lässt und 170 Blocks südwärts zieht. Usnavy trägt die Hoffnung seines Vaters bereits im Namen, denn als dieser als junger Mann, übers Meer aus der Dominikanischen Republik kommend, den Hafen von New York erreichte, war das erste, was er erblickte, ein Schiff der US Navy. Er sah das als Verheißung, und genau so sollte sein Sohn heißen! Dem erscheint jetzt allerdings die Heimat des Vaters alskaribisches Paradies, in das er übersiedeln möchte, wenn er das nötige Geld hätte und wenn da nicht Vanessa wäre.

Dieübrigen Bewohner:innen von Washington Heights haben ganz ähnliche Wünsche und Sorgen, und die diversen Erzählstränge bündeln sich in Usnavis Laden. Dabei werden die ?realen? Probleme und ihre gesellschaftlichen Ursachen, wie ungeklärter Aufenthaltsstatus, soziale Probleme, Verdrängung durch Gentrifizierung etc. angesprochen, aber sie stehen nicht im Mittelpunkt des Films. Der Fokus liegt eindeutig auf den Menschen und ihren ?suenitos?, ihren kleinen (oder größeren) Träumen, wobei es unerheblich ist, ob sie sich realisieren lassen oder nicht. Im Grunde geht es um Glücksverheißungen und das Streben nach Glück, die Suche nach Heimat und das Gefühl von Zugehörigkeit. All das sind Phänomene, die jenseits realer Not von jeher mit Migration verbunden sind. So ist der Film eine große Hommage an die hispanische Bevölkerungsgruppe der USA, die im Kino nach wie vor unterrepräsentiert ist, ein Loblied auf die Kultur, die sie geschaffen hat, und wohl auch ein Abgesang auf ein Viertel, das zu verschwinden droht. Vor allem ist IN THE HEIGHTS ein wunderbares, mitreißendes Kinomusical, das den Bogen spannt zwischen klassischen Hollywood-Vorbildern und lebendigen StreetStyles der Gegenwart.



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