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FBW-Bewertung: Oray (2019)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Von einer Scheidung wider Willen erzählt Mehmet Akif Büyükatalay in seinem sehenswerten Abschlussfilm ORAY. Im Streit spricht die Titelfigur Oray die muslimische Scheidungsformel ?Talaq? gegenüber seiner Frau Burcu aus - und von diesem Moment an ist nichts mehr so, wie es vorher war. Zwar ist sich Oray (angeblich) nicht mehr sicher, ob er das Wort nur einmal oder gar dreimal ausgesprochen hat. In den Augen des Zuschauers macht das zunächst keinen Unterschied, für den gläubigen Muslim Oray allerdings schon. Denn wie ihm der Imam erklärt, bedeutet ?Talaq? einfach nur eine dreimonatige Zwangspause in der Ehe, während der die Ehefrau tabu ist und man getrennt von ihr leben muss. Das dreimalige Aussprechen hingegen zieht die endgültige Scheidung nach sich.

Also verlässt Oray den gemeinsamem Hausstand in Hagen und zieht vorübergehend nach Köln, wo er bei Freunden unterkommt, und versucht, sein aus den Fugen geratenes Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Erstaunlich schnell findet er sich ein, findet neue Freunde und Anschluss an eine neue Gemeinde. Doch deren Imam sät Zweifel in ihm, denn er interpretiert den Koran und damit auch das damit verbundene Regelwerk wesentlich strenger als sein Kollege aus Hagen. Und so wird sich Oray plötzlich unsicher, ob er sich vielleicht nicht doch gegen seinen Willen endgültig von seiner Frau losgesagt hat.

Dank seiner präzisen Kameraarbeit und seiner pointierten, und dennoch ganz natürlich und alltäglich wirkenden Dialoge, seinem stimmigen Szenenbild, vor allem aber durch die exzellenten Darsteller - allen voran Zejhun Demirov in der Titelrolle - gelingt es dem Regisseur, ein Fenster zu öffnen in eine Welt, dieman sonst nicht allzu oft im Kino oder im Fernsehen sieht - die Welt muslimischer Männer in der deutschen Diaspora, die zwischen ihrem strengen Glauben und dem ganz normalen und ganz und gar weltlichen Alltag in der neuen Heimat einen Spagat eingehen, der ihnen ganz schöne Probleme beschert.

Dabei ist Oray kein Fanatiker, wie man anfangs beinahe glauben könnte, sondern vielmehr ein Mann, der sich bemüht, ein richtiges, gottgefälliges Leben zu führen, der meint, dass der Islam für ihn der weg aus einem weltlichen Gefängnis sei und der dabei gar nicht bemerkt, wie sehr er sich andererseits durch seinen Glauben in ein anderes Gefängnis begibt, aus dem es für ihn kein Entrinnen mehr gibt.

Dennoch verteufelt der Film die Religiosität seiner Hauptfigur nicht, sondern macht nachvollziehbar und plausibel, was das Verführerische an ihr ist: es ist die sinnstiftende Gemeinschaft, die Oray am Ende, als er seinen Fehler einsieht und realisiert, was er da angerichtet hat, auffängt und tröstet. Auch wenn der Trost, den er dort findet, ihn nicht über den Verlust seiner Frau wird hinwegtrösten können.

Ein sehenswerter, dichter, durch und durch glaubwürdiger Film, der aller Dramatik zum Trotz einen fast schon dokumentarischen Blick auf die Lebenswelt muslimischer junger Männer in Deutschland fernab jeder Klischeehaftigkeit wirft.



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