FBW-Bewertung: Die andere Seite von Allem (2017)
Prädikat besonders wertvoll
Jurybegründung: Eine Wohnung und ihre Bewohnerin erzählen hier eine Geschichte. Dies ist der außergewöhnliche Ansatz von Mila Turajlics autobiografischer Dokumentation DIE ANDERE SEITE VON ALLEM und durch diese Perspektive gelingt ihr ein zugleich persönlicher und komplexer Zugang zur serbischen Zeitgeschichte der letzten 100 Jahre. Die Wohnung in Belgrad gehörte ihren bürgerlichen Vorfahren, und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Familie enteignet und die Wohnung aufgeteilt. Eine große Tür blieb 70 Jahre lang verschlossen und der Film beginnt mit einer Sequenz, in der die Mutter der Filmemacherin Srbijanka Turajlic dieses Türschlossputzt und erzählt, dass sie den darin steckenden Schlüssel kein einziges Mal benutzt hat. In einer der letzten Einstellungen des Film wird die Tür dann doch geöffnet, und so bekommt der Film eine perfekte Rahmung, wie sie nur aufmerksamen und geduldigen Dokumentarfilmern in den Schoß fallen kann. Mila Turajlics befragt ihre Mutter nach ihrer Vergangenheit, und da die ehemalige Mathematik-Professorin in den 1990er Jahren im politischen Widerstand gegen das Regime von Milosevic war und von 2001 bis 2004 der demokratischen Regierung angehörte, ist sie eine Zeitzeugin mit einem immensen Wissen um die politischen Zustände im Land. Und darüber hinaus eine charismatische Persönlichkeit mit einer ausgeprägten politischen Meinung, die sie zugleich leidenschaftlich und auf intellektuell hohem Niveau vertritt. Zu einem großen Teil wurde der Film aus der Wohnung heraus gefilmt, mit vielen Blicken aus dem Fenster heraus, darunter auch ältere Aufnahmen von Unruhen auf den Straßen. Ergänzt wird dieses Filmmaterial durch Archivaufnahmen, unter anderem von der Dankesrede der Mutter bei der Verleihung des Osavajanje Slobode-Preises, bei der sie sagt, sie sei verwirrt darüber, einen Preis als Freiheitskämpferin zu bekommen. Denn ihr Kampf für die Freiheit sei das größte Scheitern ihre Lebens. Man kann Mila Turajlic vorwerfen, dass ihr Film subjektiv ist, es ihr an Distanz fehle und sie nur der Stimme ihrer Mutter Raum gibt, aber die Regisseurin macht von Anfang an klar, dassdies ihr Ansatz ist und sie gar nicht vorgibt, hier eine ausgewogene Geschichte des Landes zu präsentieren. Nur mit diesem autobiografischen Ansatz konnten ihr so intime und authentische Einblicke in das politische Leben dieser starken, rebellischen Frau gelingen, und sie spart dabei auch nicht ihre eigenen Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter aus, die immer im Land und in der Wohnung geblieben ist. Auch als sie aus politischen Gründen als Professorin gefeuert wurde ? eine Erfahrung, von der sie ganz klar und mit einer stoischen Gelassenheit erzählt. Für sie ist auch heute noch die Demokratie in ihrem Heimatland bedroht, und sie meint, nun wäre es an der Zeit dafür, dass ihre Tochter gegen die neuen Machthaber das Wort erhebt. Aber sie könne keine Reden halten wie ihre Mutter, entgegnet Mila Turajlic ? doch dafür hat sie diesen Film gemacht, der hoffentlich ähnlich wirkungsvoll ist.Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)