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FBW-Bewertung: Utøya 22. Juli (2018)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Angesichts eines so schrecklichen Geschehens wie des Anschlags auf der norwegischen Insel Utoya am 22. Juli 2011 muss man die Frage, ob darüber ein Spielfilm gemacht werden ?darf?, mit einem klaren Ja beantworten. Denn die Kunst kann es auch erreichen, dass den Menschen ein anderer, tieferer Blick auf solche Geschehen, die Teil des kollektiven Bewusstseins geworden sind, ermöglicht wird. Aber der Künstler hat natürlich eine besondere Verantwortung, wenn er sich dieser Herausforderung stellt. Wie solch eine Aufgabe sowohl ästhetisch wie auch menschlich angemessen gelöst werden kann, haben etwa Pablo Picasso mit dem Gemälde ?Guernica? und Claude Lanzmann mit seiner Dokumentation SHOAH gezeigt. Erik Poppe war sich derFallen, die sich für ihn bei dem Projekt stellten, offensichtlich bewusst und er hat einen künstlerisch überzeugenden Weg gefunden, sie zu vermeiden. Zum einen besteht die Gefahr, dass der Film dem Genre Thriller zugeordnet wird und entsprechend als Unterhaltung konsumierbar ist. Zum anderen könnte der Film auf eine perfide Weise im Sinne des Attentäters wirken, denn ein entscheidender Teil der Strategie eines terroristischen Anschlags besteht darin, dass er in der Öffentlichkeit als eine Schreckenstat, mit der der Täter seine Ideologie durchsetzen will, wahrgenommen wird. Poppe hat einerseits konsequent vermieden, den Konventionen des Genres zu folgen. So zeigt er eben nicht, wie Menschen erschossen werden und er folgt keiner gängigen Dramaturgie mit Spannungsbögen und der Art, wie Täter, Helden und Opfer in fiktiven Filmen in der Regel repräsentiert werden. Und Poppe verzichtet ebenso konsequent darauf, vom Täter zu erzählen. Dessen Name fällt im ganzen Film nicht ? auch nicht in den abschließenden Textzeilen, die für eine Einordnung des Gesehenen unerlässlich und kein Stilbruch sind, da sie am Schluss des Films aus diesem herausführen. Von diesem Ende und der Collage von Medienbildern des ersten Anschlags in Oslo am Anfang des Films abgesehen, wird in einer einzigen Einstellung von den 72 Minuten erzählt, die der Anschlag gedauert hat. Und zwar aus der Perspektive einer der Schüler*innen, die in dem Ferienlager auf der Insel das Attentat miterlebt. Poppe zwingt die Zuschauer geradezu, das Geschehen aus ihrem Blickwinkel mitzuerleben. Sie können so unmittelbar und sehr authentisch nachempfinden, was die Protagonisten Kaja sieht, weiß, tut und vor allem empfindet, denn der Schock, die Angst und das Entsetzen werden nicht durch die in fiktiven Filmen sonst üblichen Distanzierungsangebote wie Stilisierung, Typisierung, Perspektivwechsel oder auch die Montage gefiltert. Sowohl ästhetisch wie auch inhaltlich erzählt Poppe radikal im Sinne der Opfer. Und dass zu denen auch die Überlebenden (auf deren Aussagen das Drehbuch basiert) gehören, macht er mit einer oft schwer zu ertragenden Intensität deutlich, wenn er zeigt, wie traumatisch diese 72 Minuten für die Beteiligten waren.



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