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FBW-Bewertung: Reise nach Jerusalem (2018)

Prädikat wertvoll

Jurybegründung: REISE NACH JERUSALEM bezieht sich auf ein Spiel, bei dem die Mitspieler zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein müssen, um einen rettenden Stuhl zu besetzen. Es ist eine Mischung aus Glücksspiel und Geschicklichkeit, die auch im urbanen Leben von existenzieller Bedeutung sein kann. Der gleichnamige Spielfilm von Lucia Chiarla zeichnet ein authentisches Bild der ?Generation Praktikum? in Berlin. Bei der Protagonistin Alice handelt es sich um eine Vertreterin des studierten Präkariats, die von der Gesellschaft fallen gelassen wird.
Die Geisteswissenschaftlerin Alice (Eva Löbau), 39 Jahre alt, Single und arbeitslos, ist in einer Existenzkrise. Sie fristet ihre Tage mit dem Erstellen von Bewerbungen, die immer wieder abgelehnt werden. Das Jobcenter schickt sie zu Bewerbungstrainings, die zur Bedingung weiterer Unterstützung werden, nie aber den ersehnten Erfolg bringen. Als sie die Maßnahme daher abbricht, werden ihre Leistungen gekürzt und sie gerät in Geldnot. Ihre Eltern und Freunde verstehen nicht, wie schlecht es um Alice steht, denn sie lügt, um nicht im Ansehen zu sinken. Trotz ihrer verzweifelten Suche nach Kontakt vereinsamt sie immer mehr, denn sie kann mit ihrem Umfeld nicht mehr mithalten.
Lucia Chiarla präsentiert mit ihrem Film ihre erste Langfilm-Regiearbeit. Was als Tragikomödie beginnt, entwickelt sich zum desillusionierenden Sozialdrama. Die glaubhaft realistische Inszenierung, die jedoch filmische Ästhetik gezielt Preis gibt, unterstreicht diese wachsende Tristesse. Im Verlauf fehlen dem Film dadurch leider zunehmend Wendungen und Befreiungsmomente, denn in ihrem Kampf ist nahezu keine Entwicklung der Protagonistin festzustellen. Es gibt Momente der Gegenwehr, der Abgrenzung, der möglichen Emanzipation, die jedoch nicht weiterführen. Visuell spröde, mangelt es dem Berlin-Film an manchen Stellen an visueller Dichte. Nach der Hälfte tritt eine enorme Erschöpfung ein. Das ist bei einer relativ langen Laufzeit von 120 Minuten durchaus relevant.
Zugleich ist REISE NACH JERUSALEM ein mit großer Eindringlichkeit geschildertes Frauenschicksal. Hauptdarstellerin Eva Löbau trägt den Film mit ihrer intensiven Leistung, die enorme Einfühlung ermöglicht. Was der Titel metaphorisch vorgibt, wird am Ende allerdings überzeugend eingelöst, wenn das kurze Roadmovie von Alice? Stadtfluchtin einem Gasthaus endet, wo sie zur Königin des Reisespiel gekrönt wird.
REISE NACH JERUSALEM ist trotz seiner formalen und dramaturgischen Einschränkungen zweifelsohne ein überzeugendes Zeit- und Gesellschaftsbild der gegenwärtigen urbanen Gesellschaft in Deutschland mit einer eindrucksvollen Hauptdarstellerin. Und grundsätzlich könnte man den Film auch einem neuen deutschen Realismus zurechnen.



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