FBW-Bewertung: Nur wir drei gemeinsam (2015)
Prädikat besonders wertvoll
Jurybegründung: Iran 1955: Schon in seiner Kindheit ist Hibat ein Stratege. Das muss er auch, will er in seiner Großfamilie mit fünf Brüdern und sechs Schwestern nicht zu kurz kommen. In den 1970er Jahren engagiert sich der junge Anwalt politisch gegen das Schah-Regime und kommt ins Gefängnis, wo er es zu trauriger Berühmtheit bringt, als er sogar den vom Herrscher anlässlich seines Geburtstages gespendeten Kuchen ablehnt und dafür Prügel und Isolation in Kauf nimmt. Nach seiner Freilassung lernt er die Krankenschwester Ferestheh kennen, es ist Liebe auf den ersten Blick. Aber das junge Paar kann sein Glück kaum genießen, denn Hibat ist im Untergrund politisch aktiv ? jetzt gegen das Regime desAyatollah Khomeini. Als der Druck zu groß wird, muss er fliehen. Allerdings besteht Ferestheh darauf, dass sie und der mittlerweile geborene kleine Sohn Nouchi ihn auf der gefährlichen Flucht über die Berge begleiten. ?Nur wir drei gemeinsam? heißt ihr Motto ? und so gelangen sie über die Türkei nach Frankreich, wo sie in den Pariser Vorstädten landen und in einer multikulturellen Gesellschaft einen Neuanfang wagen.In seinem Spielfilmdebüt geht der französische Comedian, Schauspieler und Musiker Kheiron ein großes Wagnis ein: Er erzählt seine eigene Familiengeschichte, zeichnet für Drehbuch und Regie verantwortlich und spielt auch noch die Hauptrolle, seinen Vater Hibat ? und dabei gewinnt er auf ganzer Linie! Mit viel Witz, Intellekt und Leidenschaft gelingt ihm ein seltener und überzeugender Genremix aus packendem Flüchtlingsdrama und liebevollem Familienporträt. Und wann immer die Geschichte droht zu plakativ oder zu zuckersüß zu werden, sorgt eine gehörige Portion schwarzen Humors für die ironische Brechung. Kheiron zeigt eine sehr eigene Handschrift und hält die perfekte Balance zwischen Komödie und Tragödie ? mit unterschiedlichen Gewichtungen: Die Szenen von Hibats Gefängnisaufenthalt erinnern an Roberto Benignis DAS LEBEN IST SCHÖN, während die eindrucksvoll fotografierte Flucht über schneebedeckte Berge in die Türkei sehr dramatisch gestaltet ist, bevor sich die Geschichte schließlich in Paris in eine bunte Multikulti-Komödie wandelt. In allen Teilen gibt es sehr eindringliche Szenen, die lange in Erinnerung bleiben, wie die Entbindung, die verknüpft wird mit dem Aufbau des Kinderbettes durch Hibats Bruder oder die Telefonszene zwischen Ferestheh und ihrem Vater, in der zwei Minuten Schweigen genügen, um über die gelungene Flucht zu informieren.
Dabei deckt der Film einen sehr langen Zeitraum ab: In 103 Minuten sind etwa vierzig Jahre sehrüberzeugend zusammengefasst (zuzüglich des Prologs in der Kindheit). Das liegt an der guten Drehbuchkonstruktion, die wichtige Momente der Zeitgeschichte klar herausstellt und mit dokumentarischen Einschüben illustriert, an der Liebe zum Detail, die durch stimmige Ausstattung und passende Musik überzeugt, und vor allem an den sehr wandlungsfähigen Darstellern, die die Veränderungen im Laufe der Zeiten sehr glaubhaft verkörpern. Dabei geht es in erster Linie um die politische Auseinandersetzung: Während Schah Reza Pahlavi durchgängig völlig übersteigert als lächerliche Person dargestellt ist, erscheinen die noch machthabenden Mullahs zwar als suspekt, bleiben aber eher im Hintergrund.
Im Mittelpunkt des Films stehen starke Charaktere. Da ist die Kernfamilie von Hibat, Ferestheh und Nouchi, ergänzt durch Eltern und Geschwistern und später durch Angehörige der verschiedensten kulturellen Minderheiten in der Pariser Vorstadt. Sie werden mit viel Liebe und der genau richtigen Prise (Selbst-)Ironie gezeichnet. Darunter sind viele starke Frauenfiguren. Schon bei Hibats Brautwerbung ist klar, wer in dieser Beziehung das Sagen hat. Wenn im Abspann die Fotos der Darsteller mit denen der realen Personen gemischt werden, nimmt man mit Erstaunen wahr, wie nah die Schauspieler ihren Vorbildern kommen.
NUR WIR DREI GEMEINSAM ist eine tragikomische politische Familiengeschichte und ein optimistisches Plädoyer für Liebe, Engagement und Menschlichkeit.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)