FBW-Bewertung: Das Märchen der Märchen (2015)
Prädikat besonders wertvoll
Jurybegründung: Zunächst sind nur die Beine eines Mannes zu sehen. Er trägt eine farbige, eng anliegende Hose - den modernen Leggins ähnelnd. Er könnte ein Spielmann, ein Gaukler sein, der auf sonnenüberflutetem Boden einem imaginären Ziel entgegen schreitet.Und der Zuschauer scheint ihm zu folgen, voller Vertrauen, obwohl er nicht weiß, wo er sich befindet und wohin ihn diese Reise führen wird. Die Geräusche, die Musik verheißen Wunderbares, aber noch immer gibt das Bild nur den Blick auf die Beine des Mannes frei. Und auf den Schatten, der ihn treu begleitet ?
Bereits die ersten Sekunden dieses Filmsöffnen ein großes Tor in das Universum außergewöhnlicher Bild- und Klangwelten. Siesind eine Aufforderung, einzutreten, zu staunen, den Blick zu weiten, die Sinne zu schärfen. Sie sind eine Aufforderung, Verzauberung zuzulassen und in DAS MÄRCHEN DER MÄRCHEN tief einzutauchen.
Die alte Weisheit, dass Licht und Schatten untrennbar miteinander verbunden sind, genauso wie Yin und Yang, wie Schuld und Sühne, wie Lachen und Weinen, wie Trauer und Glück, wie das Gute und das Böse, kündigt sich bereits in dieser ersten Filmeinstellung an und entfaltet im Laufe der Handlung ihre poetische Dimension.
Die Idee Matteo Garrones, drei Märchen aus der etwa 400 Jahre alten Sammlung von Giambattista Basile ineinander zu verweben, ermöglicht dem Zuschauer, universelle Themen auszumachen, eigene Gefühle, Konflikte, Wünsche, aber auch eigene seelische Abgründe (wieder) zu erkennen.
Nur drei davon seien genannt: Die Hoffnung auf ewige Jugend, der unbedingte Kinderwunsch, aber auch die Unfähigkeit, dem eigenen Kind genügend Zeit, Aufmerksamkeit und Schutz zu gewähren.Drei Leitmotive, die einander wechselseitig vorantreiben und tiefe Einblicke in menschliche Seelenlandschaften gewähren. Es sind Einblicke, die uns nicht selten schaudern lassen.
Etwa dann, wenn die Königin ohne sichtliche Trauer an der Leiche ihres Mannes vorübereilt, um das Herz des von ihm erlegten Seeungeheuers an sich zu bringen und schließlich gierig zu verschlingen, damit sich die Prophezeiung und damit ihr Kinderwunsch erfüllt.
Etwa dann, wenn sich eine Alte mit dem Messer häuten lässt, weil sie ihrer Schwester gleichen will, die durch wundersame Fügung Jugend und Schönheit zurück erlangte.
Etwa dann, wenn ein königlicher Vater die Haut seiner Tochter zu Markte trägt und das Mädchen einer gewalttätigen Kreatur ausliefert, die als einzige das Rätsel um die Haut seines geliebten Riesenflohs zu lösen imstande war.
Doch auch das Gute bricht sich immer wieder Bahn. Eine große Freundschaft siegt, die kaltherzige Königin haucht ihr Leben als Bestie aus, die in die Wildnis ausgestoßene Prinzessin vermag ihrem reuevollen Vater zu vergeben...
Die Frage, ob die Verknüpfung der drei Märchen durchgängig gelungen ist, wurde von den Gutachtern lange diskutiert und unterschiedlich bewertet.
Das Gremium aber war sich darüber einig, dass der Film auf besondere Art berührt, auf besondere Art ?erzählt?.
Es scheint beinahe unmöglich, Einzelleistungen hervorzuheben, weil offenbar alle Beteiligten mit viel Liebe - bis hin zum kleinsten Detail - gemeinsam einen Film geschaffen haben, der auf vielschichtige Weise sein erzählerisches wie gestalterisches Potential entfaltet, die Zuschauer im besten Sinne fesselt und anregendunterhält.
Insbesondere bezieht der Film seine unbestrittene Sogwirkung aus der Poesie der alten Märchen, die in der filmischen Umsetzung zum Leuchten gebracht wird.
Und natürlich auch aus den großartigen darstellerischen Leistungen. Da genügen oft Blicke, kleine Gesten, winzige Veränderungen der Körperhaltung, um auf subtile Weise deutlich zu machen, was die Figur vor den Augen des Betrachters zu verbergen sucht und was sie offenbart.
Die wunderbare Bildsprache besticht durch all ihre Facetten? Kamera, Kostüm, Maske, Licht, Farbdramaturgie, aber auch märchenhafte, in der Realität gefundene Landschaften, Schlösser, Räume ?
Die ungewöhnliche, in einen Sinnesrausch versetzende Musik, begleitet im Zusammenspiel mit allen auditiven Elementen die Bildebene dabei auf kongeniale Weise.
Und zu guter Letzt die meisterhafte Montage, die lange Einstellungen zulässt und auf vordergründige Effekte verzichtend, immer auf das Wesen einer Sequenz, eines Handlungsstranges, auf das Wesen der Geschichte orientiert.
Am Ende des Films schließt sich ein Kreis. Der junge Gaukler, der bei einem Rettungsversuch der Prinzessin von der gewalttätigen Kreatur getötet wurde, balanciert hoch über dem Thronsaal des Schlosses auf einem Seil. Die Prinzessin bemerkt ihn und der Zuschauer bemerkt ihn auch. Ob der junge Mann auf die andere Seite gelangt, bleibt offen.
Märchen verschließen sich oft der Logik von Ereignissen und erschließen magische Räume.
Und DAS MÄRCHEN DER MÄRCHEN schafft genau dies. Großes Kino!
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)